Armenien nach dem Krieg: Ein Korridor als Hürde

Nr. 29 –

Im März kündigten Armenien und Aserbaidschan einen Friedensvertrag an – doch unterzeichnet wurde der bisher nicht. Umstritten ist unter anderem ein kleiner Streifen im Süden des Landes.

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Foto der Familie von Narine Musaelyan
Für Versöhnung sei es noch zu früh, sagt Narine Musaelyan, die aus Karabach geflüchtet ist.
Foto der Stadt Meghri
Meghri, eine Stadt zwischen blühender Vergangenheit und Hoffnung auf die Zukunft.

Wer von der Hauptstadt Jerewan in den südlichsten Zipfel Armeniens reisen will, muss eigentlich nur den gelben Nummernschildern folgen. Vollgepackt schnaufen unzählige iranische Lastwagen die Serpentinen im Kleinen Kaukasus hoch und runter – vorbei an Verkaufsbuden am Strassenrand, die selbstgebrannten Pflaumenschnaps und Wodka anpreisen. Sjunik heisst die letzte armenische Provinz vor dem Grenzfluss Araks, sie liegt eingeklemmt zwischen dem Kernland Aserbaidschans im Osten, dessen Exklave Nachitschewan im Westen und dem Iran im Süden – einem engen Verbündeten und wichtigen Handelspartner Armeniens.

In diesen Tagen Ende Juni passieren neben iranischen und armenischen Lkws und Tourist:innen auch Geflüchtete, die sich vor dem Krieg zwischen dem Iran und Israel in Sicherheit bringen, den Grenzübergang. Er liegt in der Nähe von Meghri, einem 5000-Einwohner:innen-Städtchen, das von felsigen, spitz zulaufenden Bergkuppen umgeben ist. In den grünen Gärten reifen zu dieser Jahreszeit Aprikosen und Maulbeeren heran.

Doch die Idylle trügt. Seit dem zweiten Krieg um die nahe gelegene Region Bergkarabach im Jahr 2020 fordert Aserbaidschan die Errichtung einer Transitpassage durch die Provinz Sjunik: Ganz im Süden soll der Sangesur-Korridor Aserbaidschan mit Nachitschewan verbinden – und damit auch mit der Türkei. Aus Baku, der aserbaidschanischen Hauptstadt, gibt es widersprüchliche Statements dazu, wie der Korridor ausgestaltet werden, was er umfassen und wer ihn kontrollieren soll. Russische Truppen? Aserbaidschanische? Sicher ist nur: Der Korridor würde die Handelsrouten in der Region grundlegend verändern. Armenien wie auch der Iran hätten dabei wohl das Nachsehen.

Kaukasische Konfliktregion

Karte von Armenien und Umgebung
Karte: WOZ

Blütezeit dank der Eisenbahn

Schon seit Jahrhunderten kreuzen sich auf diesem kleinen Stück Erde die Einflusssphären grosser Mächte. Besonders deutlich wird das im alten Bahnhof von Meghri, drei Kilometer ausserhalb der Stadt. Armen Davtyan steigt über das Geröll in der verwaisten Wartehalle, wo blaue Farbe von verschnörkelten Säulen blättert. Seit über dreissig Jahren fahren hier keine Züge mehr. «Es schmerzt mich, den Bahnhof so zu sehen», sagt der 56-Jährige.

Was heute eine halb verfallene Ruine ist, war für Davtyan Kindheit und Jugend. Schon sein Vater war zur Sowjetzeit für das Gepäck der Reisenden zuständig. Damals ratterten Züge von Jerewan bis nach Baku, einmal quer durch Nachitschewan und von West nach Ost vorbei an Meghri. Die Zugstrecke verhalf der Stadt zu heute kaum vorstellbarer Blüte. Und der Bahnhof wurde in den achtziger Jahren auch Davtyans Arbeitsplatz.

Er erinnert sich noch gut an die langen Güterzüge, die hier im Zwanzigminutentakt vorbeifuhren. Die Fahrpläne der Personenzüge kann er bis heute auswendig aufsagen. Er sehe sie noch immer vor sich, sagt Davtyan, die Armenier:innen, Aseris und Usbek:innen, die hier ein- und ausstiegen. Dann, Ende der Achtziger, flammte noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion der jahrzehntealte Konflikt um Bergkarabach wieder auf. Die Gewalt zwischen Armenier:innen und Aseris eskalierte, es gab Massaker auf beiden Seiten, Zwangsvertreibungen. Und ab 1991 den Ersten Karabachkrieg, im Lauf dessen das mehrheitlich armenisch bewohnte, aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörige Bergkarabach seine Unabhängigkeit ausrief.

Zu Beginn der Kämpfe erreichten weiterhin Züge aus Nachitschewan den Bahnhof von Meghri. «Wir Eisenbahner hielten zusammen», sagt Davtyan. Aber nach und nach seien seine aserbaidschanischen Kolleg:innen aus dem Städtchen geflohen und armenische nachgerückt. 1993 schliesslich machte der Bahnhof dicht. Armen Davtyan, zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Bahnhofsdirektor, verlor seinen Job. Er arbeitete später für die Grenzsoldaten aus Russland, das lange als Armeniens Schutzmacht agierte, dann ganz in der Nähe in einer grossen Kupfer-Molybdän-Fabrik. Manchmal bekomme er auf Facebook rührende Nachrichten von seinen alten Bahnkolleg:innen zugeschickt, sagt Davtyan. Während aber der virtuelle Kontakt mittlerweile möglich ist, blieb die physische Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien bis heute geschlossen.

«Ich habe Hoffnung, dass die Züge in Meghri eines Tages wieder rollen und diese Region zu einem globalen Drehkreuz wird», sagt Davtyan. «Aber dafür muss die internationale Gemeinschaft für Sicherheit sorgen, für Güter wie für Menschen.»

2020 brach der Zweite Karabachkrieg aus. Er endete im November desselben Jahres, nachdem Russland zwischen Armenien und Aserbaidschan vermittelt hatte. Im damaligen Waffenstillstandsabkommen verpflichtete sich die Regierung in Jerewan, alte Verkehrsverbindungen zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan wiederherzustellen und die Sicherheit beim Transit zu garantieren – kontrolliert von russischen Truppen. Auch sollten neue Verkehrswege entstehen. Von einem «Korridor» war im Abkommen aber keine Rede.

Flucht und Vertreibung

Nun befürchten viele, dass der Sangesur-Korridor letztlich die Form eines extraterritorialen Gebiets Aserbaidschans annehmen könnte. Die jüngere Vergangenheit lässt kaum an der Entschlossenheit der Regierung von Präsident Ilham Alijew zweifeln: Ab Dezember 2022 liess diese Armeniens Zugang zu Bergkarabach militärisch blockieren. Und im September 2023 griff Aserbaidschan die Region schliesslich an. Über 100 000 Karabach-Armenier:innen flüchteten aus dem Gebiet, nur einige wenige blieben zurück. Damit endete faktisch die jahrtausendealte armenische Siedlungsgeschichte in der umkämpften Region. Die russischen Truppen, die seit 2020 eigentlich für Stabilität sorgen sollten, schritten nicht ein. Sie liessen die Vertreibung zu.

Diesen März schliesslich verkündeten Armenien und Aserbaidschan, sich nach über dreissig gewaltvollen Jahren auf den Wortlaut eines Friedensabkommens geeinigt zu haben. Die gute Nachricht ging um die Welt – aber unterzeichnet wurde das Schreiben bislang nicht. Neben dem Sangesur-Korridor gibt es weitere offene Streitpunkte. So stellt etwa Alijews Regierung zwei wesentliche Bedingungen: Erstens soll Armenien die Präambel seiner Verfassung so ändern, dass diese keinen Bezug mehr auf eine Passage der Unabhängigkeitserklärung von 1990 nimmt, in der die «Wiedervereinigung» mit Bergkarabach gefordert wird. Zweitens verlangt sie die Auflösung der Minsker Gruppe der OSZE, die sich seit Anfang der neunziger Jahre mit einer friedlichen Lösung des Territorialkonflikts befassen sollte.

Während manche Armenier:innen das geplante Friedensabkommen als mutigen Schritt begrüssen, um dem jahrzehntelangen Blutvergiessen endlich ein Ende zu bereiten, erachten es andere als ultimativen Verrat durch die Regierung von Premier Nikol Paschinjan. In fast jeder armenischen Familie gibt es Gefallene und Verwundete der Karabachkriege – soll all ihr Schmerz, ihre Trauer umsonst gewesen sein?

Gedenken in der Schule

Allein im sechswöchigen Krieg von 2020 wurden rund 4000 armenische Soldaten getötet. Viele von ihnen waren junge Männer, kaum alt genug für den Wehrdienst. So wie Tigran Hayrapetyan. Auf einem überlebensgrossen Wandbild auf der Fassade seiner alten Schule in Meghri ist heute sein Porträt zu sehen. Das Gebäude steht neben dem Kulturzentrum der Stadt mit angrenzendem Park und Spielplatz, wo russische Popmusik aus einer Box schallt und Kinder in der Sommersonne Softeis schlecken. Hayrapetyan wurde hier im Jahr 2000 geboren, das Mural zeigt ihn in einer tarnfarbenen Uniform, mit müdem, aber entschlossen wirkendem Blick. Daneben gibt es im Flur eine Fotogalerie mit weiteren Menschen aus der Region, die im Krieg getötet wurden.

Rosa Barchudaryan und Sona Mirzoyan, zwei von Tigran Hayrapetyans einstigen Lehrerinnen, erinnern sich an ihn. Er sei gut im Sport gewesen, sagen sie, vor allem im Fussball. Nach dem Abschluss habe Hayrapetyan in Jerewan ein Mathematikstudium angefangen. Er sollte es nie abschliessen. Ob es für die jungen Schüler:innen nicht belastend sei, wenn sie morgens vor dem Unterricht an den Bildern der Gefallenen vorbeikämen? Mirzoyan widerspricht. «Diese Männer sind unsere Helden, die Beschützer unseres Landes», sagt sie. Eine der Schülerinnen begrüsse jeden Tag das Bild ihres gefallenen Vaters. Ihn auf diese Weise ganz nah bei sich zu wissen, gebe dem Mädchen Kraft und Motivation.

Eine Handvoll vertriebene Familien aus Bergkarabach leben derzeit in Meghri und den umliegenden Dörfern, die Schule hat rund ein Dutzend neue Schüler:innen aufgenommen. Darunter sind mehrere der sechs Kinder von Narine Musaelyan: Die 37-Jährige lebt mit ihren Söhnen und Töchtern, ihrem Mann und ihren Eltern in einem kleinen Haus hoch oben in den Bergen. Ein paar ihrer Nichten und Neffen sind an diesem Tag ebenfalls zum Spielen auf der Veranda vorbeigekommen, die Kleinen reden aufgeregt durcheinander. Doch als Musaelyan anfängt zu erzählen, werden alle still.

Unter der Willkür einer aserbaidschanischen Verwaltung in Bergkarabach zu leben – das sei für ihre Familie nicht infrage gekommen, sagt Musaelyan. Vor der Flucht im Herbst 2023 habe sie gerade noch die wichtigsten Dokumente und ein paar Fotos einpacken können, sonst aber kaum etwas mitgenommen. Es sei nur schon schwierig gewesen, für alle Familienmitglieder einen Platz in einem der Autos zu finden, die damals in langen Kolonnen Bergkarabach verliessen. Zunächst habe sie sich mit ihrer Familie bis nach Jerewan durchgeschlagen, dort aber keinen Job gefunden, sagt sie. Mittlerweile arbeitet Musaelyan als Putzkraft, wie sie es auch in Bergkarabach schon getan hatte. Ihr Mann, der Reservist der Streitkräfte in Bergkarabach war und im Konflikt verwundet wurde, habe in Meghri eine Anstellung bei einem Bäcker gefunden.

«Die Menschen in Meghri haben uns von Beginn an unterstützt», sagt Narine Musaelyan. Beschweren könne sie sich nicht. Aber ihre Heimat, das sei noch immer Karabach – und werde es immer bleiben. Ob sie glaubt, irgendwann friedlich leben zu können, hier im Süden, Seite an Seite mit den Aseris im Osten und Westen? «Nein», sagt Musaelyan, «das sind Mörder.» Wirklich alle? Sie überlegt kurz. Sie habe im Internet Videos von Menschen in Aserbaidschan gesehen, die ebenfalls für Frieden einstünden, sagt Musaelyan. Aber Versöhnung – dafür sei es nach allem, was ihr angetan worden sei, noch viel zu früh.

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