Nachhaltiges Bauen: Verloren im putzig Kleinen

Nr. 44 –

Unter dem Label «Intelligens» will die Architekturbiennale in Venedig aufzeigen, wie Bauwirtschaft und Architektur auf das Klimadesaster reagieren können. Doch wirkliche Lösungen sind anderswo zu finden.

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«Deserta Ecofolie»
Ökologische Ideen stehen an der Architekturbiennale im Zentrum: «Deserta Ecofolie» ist ein Prototyp für eine minimale Wohnung in der Atacama-Wüste.  Foto: Andrea Avezzù, La Biennale di Venezia

In Zeitlupe ist zu sehen, wie sich die Felswand eines Steinbruchs unmerklich aufbläht, grösser und grösser wird, so als ob sie einen langsamen, tiefen Atemzug nähme. Doch sie atmet nicht wieder aus, sondern dehnt sich weiter und zerbirst schliesslich in einer sehr langsamen Explosion in grosse und kleine Brocken.

Die kurze Filmsequenz am Eingang zum Arsenale, dem alten Werftareal von Venedig, ist so etwas wie ein Willkommensgruss zur diesjährigen Biennale Architettura. Seit 1980 hat die Ausstellung, alternierend mit der Kunstbiennale, ihren festen Platz in Venedig und in der Welt der Architektur. Einige ihrer Ausgaben waren Leistungsschauen, die persönliche oder nationale Eitelkeiten bedienten. Andere fragten nach Modernität und Tradition, nach der Verflechtung von Architektur und Gesellschaft. In den vergangenen zwanzig Jahren bekamen Nachhaltigkeit und Ökologie immer mehr Gewicht. Mit gutem Grund: Die Bauwirtschaft verursacht zusammen mit dem Verbrauch für Heizung und Kühlung vierzig Prozent aller CO₂-Emissionen. Sie produziert sechzig Prozent der weltweiten Abfälle, und sie ist für siebzig Prozent des jährlichen Flächenverbrauchs verantwortlich.

«Intelligens», so der Titel der 19. Biennale, ist die erste Ausstellung, die Nachhaltigkeit und Ökologie ganz ins Zentrum stellt. Wie kann die Gattung Mensch («gens») mit ihrer Intelligenz der Klimakatastrophe begegnen?

«Mit Vertrauen und Optimismus»

Carlo Ratti, international vernetzter Architekt und Ingenieur, hat für die zentrale Ausstellung im Arsenale weltweit nach Vorschlägen gesucht, wie das Bauen auf die Erderwärmung reagieren könnte. 300 dieser Vorschläge fanden den Weg nach Venedig. Mit dieser Vielfalt will Ratti zeigen, «wie wir uns der Welt von morgen mit Vertrauen und Optimismus anpassen können».

Das Resultat dieser Sammlung ist durchzogen. Die Ausstellung verliert sich in Fotos, Grafiken und Architekturmodellen, in technologischen Ideen und praktischen Lösungen. Variationen von kleinen, oft geradezu putzigen Alternativen zu den üblicherweise verbauten Materialien reihen sich aneinander: Bausteine aus rezykliertem Beton, aus Pflanzenfasern, Elefantendung und Austernschalen, Baumaterialien mit eingelagertem Kohlendioxid. Wir erfahren von Bakterien, die Schadstoffe abbauen, und von Projekten für Urban Mining, also der Suche nach Wiederverwertbarem aus Bauschutt und Industrieabfällen.

Es wird uns gezeigt, wie mithilfe von künstlicher Intelligenz auch das Holz von verkrüppelten Bäumen für den Bau genutzt werden kann. Wir sehen dynamisch beschattete Wohnsiedlungen, auf dem Wasser schwimmende kleine Häuser. Wir erleben 3-D-Drucker im Bauprozess. Einige (wenige) Beiträge sind neu und aufregend. Von den meisten hat man schon gehört.

Was fehlt, sind die grossen Fragen: Wie kommt es, dass wir als Gesellschaft so exzessiv viel bauen? Können Unternehmen und Politik das exponentielle Wachstum in der Bauwirtschaft brechen? Und was ist die Aufgabe der Architektur?

Arno Schlüter ist Professor für Architektur und Gebäudesysteme an der ETH Zürich. Die diesjährige Biennale hat er zwar nicht besucht und will sie daher auch nicht kommentieren. Aber er ist einer, der über die Grenzen seines Fachbereichs hinausschaut und dezidierte Vorstellungen davon hat, wie die Gesellschaft auch im Bereich des Bauens auf den Klimawandel reagieren kann und muss. Als Hochschulprofessor betrachtet er es als seine primäre Aufgabe, bei den Studierenden die Fragen von Nachhaltigkeit so intensiv zu stellen, dass sie Teil ihres Bewusstseins und ihrer Intuition werden. Ökologie und Energie sollen im Entwurfsprozess nicht irgendwann dazukommen, sondern von Anfang an im Zentrum stehen. Damit werde der Entwurfsprozess auf den Kopf gestellt, sagt Schlüter, «doch ich habe festgestellt, dass sich die angehenden Architekt:innen immer mehr und neugierig damit auseinandersetzen».

«Architekt:innen müssen auch ihre Bauherren weiterbilden», sagt er. Wie geschieht das? «Indem sie die Fragen der Ökologie immer wieder auf den Tisch bringen. Dazu gehört auch, dass der Umbau und Weiterbau eines Gebäudes oft nachhaltiger ist als der Abriss.»

Zukunftseuphorie und Abrisswut

«Wir bauen zu viel», sagt auch Vittorio Magnano Lampugnani. Bis zu seiner Pensionierung war er Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH, als Architekt ist er weiterhin tätig, auch in der Stadtplanung. Achtzig Prozent der weltweiten Bausubstanz seien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erstellt worden. Das meiste auf neu ausgewiesenem Bauland, vieles aber auch dort, wo vorher schon etwas stand: Wohnhäuser, Werkhallen, Verwaltungsgebäude, Bahnhöfe. Die meisten dieser Gebäude wurden abgerissen, obwohl sie noch weit vom Ende ihrer Lebensdauer entfernt waren.

Die Abrisswut blieb nicht auf die zukunftseuphorischen Jahrzehnte nach 1945 beschränkt. Auch heute noch fallen allein in der Schweiz pro Sekunde 500 Kilogramm teilweise toxische Bauabfälle an. Das sind 1,7 Tonnen pro Einwohner:in und Jahr, die aufwendig entsorgt werden müssen.

«Das kapitalistische Wirtschaftssystem lebt davon, dass die Menschen immer mehr konsumieren, auch das, was sie nicht brauchen», sagt Lampugnani. Was bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem für Konsumgüter galt, ist heute auch in der Bauwirtschaft zum Prinzip geworden: «Gebäude werden nicht abgerissen, weil sie am Ende ihres Lebenszyklus stehen, sondern am Ende ihres Ertragszyklus», sagt Lampugnani. Das kann schon nach zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren der Fall sein. «Nachhaltig ist das nicht. Auch nicht, wenn die neuen Häuser in fette Dämmplatten eingepackt und mit Wärmepumpen beheizt werden.»

Lampugnani wiederholt, was er in anderen Worten schon oft gesagt hat und was auch im Titel eines 2023 publizierten Essays aufscheint: «Wir müssen von der Wegwerfarchitektur wegkommen.» Das heisst: weniger bauen und das wenige besser, vielseitiger und langlebiger. «Und wir müssen unsere Ansprüche zurückschrauben.» Damit meint er nicht die Ansprüche an die Bauqualität, sondern unsere Ansprüche an die schiere Menge Wohnraum, den jeder und jede für sich beansprucht, ohne ihn wirklich zu füllen.

Kann und soll die Architektur auf die Politik einwirken? Eigentlich, so Lampugnani, sollte es umgekehrt sein. «Wir Architekten können Vorschläge machen. Wir können mit Quartieren, Verdichtungen, Bauten und Umbauten zeigen, was alles möglich wäre. Es liegt dann aber an der Politik als Ausdruck des Bürgerwillens, unsere Vorschläge auf- und anzunehmen.» Tut die Politik das? Auf diese Frage antwortet er verschlüsselt. «Es geht um ein grundsätzliches Umdenken, das auch mit Verzicht verbunden ist, Verzicht auf Dinge, die wir nicht wirklich brauchen. Das erfordert viel Voraussicht. Und vor allem viel Mut.» – Müssen wir verzichten? Muss die Politik die Schrauben anziehen und klimaschädigende Baustoffe und -techniken verbieten?

Clever umgestalten

Jacqueline Badran, SP-Nationalrätin und streitfreudige Vertreterin der Mieter:innen, kann sich dafür nicht erwärmen. Sie skizziert zwei Alternativen: eine furchtbar trockene und eine mitreissende. Die trockene betrifft die Rechnungslegungsvorschriften für Immobiliengesellschaften, die falsche Anreize schafft. Es geht – vereinfacht gesagt – um die absurde Tatsache, dass Immobilienkonzerne und Pensionskassen ihre Bilanzen mittels Leerkündigungen, Totalabrissen und Luxussanierungen verbessern können. «Mit einer Änderung der Rechnungslegungsvorschriften wäre schon viel gewonnen», sagt Badran.

Ihre mitreissende Vision fasst sie in einem Satz zusammen: «Wir müssen das Bauen denen zurückgeben, die in den Wohnungen leben.» Weil aber nur gerade zehn Prozent aller Mieter:innen daran denken können, selber Wohneigentum zu erwerben, fordert Badran die Förderung gemeinnütziger Wohnbaugenossenschaften. «Ihnen geht es nicht darum, gute Bilanzwerte zu produzieren, sondern darum, für ihre Mitglieder mit möglichst wenig Geld möglichst viel Qualität zu schaffen.»

Bestehende Bausubstanz wird intelligent umgestaltet, weil das weniger kostet. Der Energieverbrauch wird optimiert, und die Einsparungen werden an die Mitglieder weitergegeben. Zwar sind Wohnungen in einer solchen Genossenschaftssiedlung oft kleiner, dafür gibt es zusätzlich Werkstätten, Saunen, grosse Räume für grosse Einladungen, Besuchszimmer und Carsharing, die von allen genutzt werden können. «In einer guten Genossenschaft muss niemand auf etwas verzichten», sagt Badran.

Beide Alternativen, die trockene wie die mitreissende, brauchen die Unterstützung der Politik. Doch da mahlen die Mühlen langsam. Die Abstimmung über den Eigenmietwert hat gezeigt, dass der ganz private Besitz einer Wohnung – oder der Traum davon – immer noch sehr tief verankert ist. «Die Möglichkeiten des kollektiven selbstbewohnten Eigentums werden noch nicht verstanden», sagt Badran.

Die Aktie des Zementkonzerns Holcim befindet sich gerade auf einem Allzeithoch. Und während die Architekturbiennale noch bis zum 23. November mit ihren vielen kleinen Initiativen für nachhaltigeres Bauen wirbt, drängt sich die Frage auf: Müssen wir uns tatsächlich damit begnügen?