Serbien: Leben im Umweltdreck: Möglichst schnell vergessen

Drei Jahre sind seit dem Ende des Nato-Krieges gegen Jugoslawien vergangen. Die Menschen, die neben der zerbombten Kunststofffabrik in Pancevo leben, werden noch lange unter den Kriegsfolgen leiden.

Der Abgeordnete Ivan Zafirovic blickt auf den Berg Papier, der sich auf seinem Schreibtisch stapelt. Vor ihm liegen Berichte über die ökologischen Folgen der Nato-Bombardements im Frühling vor drei Jahren. Als einziger Abgeordneter der Grünen Partei im Stadtparlament von Pancevo ist Zafirovic zuständig für den Umweltschutz – ein Thema, das hier kaum jemanden interessiert, obwohl der Stadt der ökologische Kollaps droht.
Pancevo ist einer der wichtigsten Industriestandorte in Serbien. Hier, ein paar Kilometer vor der Stadtgrenze Belgrads, konzentriert sich die petrochemische Industrie. In den Wochen zwischen Ende März und Mitte Juni 1999 trafen Nato-Bomben die Ölraffinerie, die Düngemittelfabrik Azotara und die Kunststofffabrik Petrohemija. Immer wieder. Was zehntausenden Arbeit und bescheidenen Wohlstand einbrachte, wurde für die 100 000 EinwohnerInnen Pancevos zum Fluch. Insbesondere in der Woche zwischen dem 13. und dem 20. April geriet die Bevölkerung in Panik. In jeder Nacht rasten Cruise-Missiles in das Industriegebiet, das direkt an ein Wohnviertel anschliesst. Tagsüber blieb es dunkel, weil sich eine gewaltige Rauchwolke über die Stadt wölbte. «Die Leute litten unter Kopfschmerzen, Erbrechen, Hautreizungen», erzählt Zafirovic. Erst als es anfing zu regnen, lichtete sich der Himmel.
«Auf den Autos, auf den Strassen, überall klebte ein schwarzer schmieriger Schleim», erinnert sich der junge Abgeordnete. «Viele Menschen sind damals zu Freunden oder Verwandten in andere Städte geflüchtet», erzählt er. Die Verwirrung war gross, denn der Krieg traf die Hochburg der Opposition völlig unerwartet. Pancevo liegt in der Vojvodina, die Grenze zu Ungarn und Rumänien ist viel näher als Pristina und der Kosovo.
Ende Juli 1999 besuchte ein Team des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep) die Stadt. Die Experten stellten fest, dass neben vielen anderen toxischen Substanzen in der Plastikfabrik Petrohemija 2100 Tonnen des giftigen Ethylen-Dichlorid (EDC) ausgeflossen und 460 Tonnen Vinylchlorid- Monomer (VCM) verbrannt waren. Diese Chemikalien sind die Grundsubstanzen für die Herstellung des Kunststoffes PVC und hochgradig krebserregend. Ein für die Europäische Kommission 1999 erstellter Bericht hält fest, dass die Folgen der Bombardierung von Industriestandorten in Jugoslawien eine ernsthafte Bedrohung für die menschliche Gesundheit darstellen. «Es ist gut, dass die Unep so schnell hier war und den Bericht geschrieben hat», sagt Zafirovic. Aber seither sei wenig geschehen, obwohl die Genfer Behörde damals dringenden Handlungsbedarf sah.*
Das muss Roeland Kortas bestätigen. Der Chemiker ist als Chef des «Clean-up»-Programms der Unep verantwortlich für Projekte, um die ökologischen Folgen des Krieges zu verringern. «Clean-up» (englisch für «reinigen») ist aber eigentlich der falsche Begriff für Kortas’ Arbeit. «Bisher wurden keine Massnahmen ergriffen, um Wasser und Böden in Pancevo zu entgiften», sagt er in seinem Belgrader Büro. «Wir können uns nur auf die dringendsten Aufgaben konzentrieren.» Und diese bestehen momentan beispielsweise darin, einen Abwasserkanal zu sichern, der vom bombardierten Industriegebiet in die Donau führt. In diesem Kanal landeten Tonnen gefährlicher Substanzen, die sich weiterzuverbreiten drohen. «Bei der Bombardierung ist die Kläranlage zerstört worden», erläutert Kortas. Verhindern, dass die Schäden noch grösser werden – so könnte man die Arbeit der Unep zusammenfassen.
Während die Nato-Staaten in den drei Kriegsmonaten etwa fünf Milliarden Dollar für Munition und Material ausgaben, um den Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien zu führen, scheint nun kein Geld mehr in den Kassen zu sein, um dem Land beim Wiederaufbau zu helfen. «Um wirklich aufzuräumen, würden wir hunderte von Millionen Dollar benötigen», sagt Kortas. Sein Etat liegt bei zwanzig Millionen; und davon haben die Geberländer erst die Hälfte ausgezahlt.
Unter Druck aus Serbien steht die «internationale Gemeinschaft» nicht. Die Regierung bringe das Thema nicht auf den Tisch, weil sie fürchte, selbst unter Handlungsdruck zu kommen, sagt Alexandar Weisner. Er ist Mitglied einer Friedensgruppe in Pancevo und hat mit seinen FreundInnen in den vergangenen zehn Jahren den oft aussichtslos scheinenden Kampf gegen Nationalismus und Krieg geführt. Heute versucht er die Menschen auf die Umweltkatastrophe aufmerksam zu machen. Aber obwohl alle wissen, dass irgendetwas nicht stimmt, versuchen die meisten Normalität zu simulieren. «Die Chemieindustrie ist nicht erst seit 1999 eine Bedrohung», erklärt Weisner. «Die Arbeiter starben hier schon immer jung. Trotzdem haben die meisten Leute die Chemieproduktion akzeptiert, weil es eben Geld brachte», sagt er. «Heute versuchen die meisten zu vergessen, was passiert ist. Sie wollen leben.» Doch er fügt an: «Fast jeder hier kennt jemanden, der krank ist. Das ist ein komisches Gefühl.»
Käme die Zerstörung der Fabriken von Pancevo zur Sprache, müssten viele Fragen beantwortet werden, die man in Brüssel, Berlin oder Washington nicht hören möchte. Warum wurden die Fabriken bombardiert, obwohl sie gar keine Waffen produzierten? Ging es um die Zerstörung eines wichtigen Industriekomplexes? Oder sollte nur die Raffinerie zerstört werden, die Treibstoffe herstellte? Warum wurden aber dann die Kunststofffabrik und die Düngemittelfabrik an mehreren aufeinander folgenden Tagen bombardiert? In den Zusatzprotokollen zu den Genfer Konventionen steht, dass «Kriegsführung, die ausgedehnte, lang anhaltende oder schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursacht», verboten ist. Doch das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien hat nicht einmal Ermittlungen gegen die Nato-Verantwortlichen aufgenommen.

* Der Ende 1999 publizierte UNEP-Bericht «The Kosovo Conflict: Consequences for the Environment and Human Settlements» ist abrufbar unter www.grid.unep.ch/btf.
Der zweite zitierte Bericht wurde von der Nichtregierungsorganisation Regional Environmental Center for Central and Eastern Europe (REC) für die Europäische Kommission erstellt und ist einsehbar unter www.rec.org/REC/Publications/YugoConflictAssessment/contents.html.