Vergessen, um zu wiederholen?

Die alte Kamelle, dass der, der die Vergangenheit vergisst, verdammt sei, sie zu wiederholen, ist in Zeiten des weltweit im Auftrieb befindlichen Rechtspopulismus ein gerne wiederholtes Klischee. Und gerade für diesen historischen Moment nicht wirklich erhellend. Weil das Klischee eben davon ausgeht, dass die Betreffenden die Geschichte nicht wiederholen wollen. 

Derzeit jähren sich in Deutschland viele der gegen Asylbewerber:innen, Migrant:innen und all jene, die in Deutschland «Ausländer» heissen, gerichteten Gewaltakte zum dreissigsten Mal. Ein guter Moment, sollte man meinen, gerade unter einer Nation von Erinnerungsweltmeister:innen, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, dazuzulernen. 

Stattdessen werden die alten Debatten lieber noch einmal wiederholt. Denn wieder einmal ist Wahlkampf, und «gemässigt konservative» Parteien hoffen, unter unmässig konservativen Wähler:innen auf Stimmenfang zu gehen. Also wird einmal mehr eine «Asyldebatte» geführt. Was an deren Ende stehen wird, das könnte einen die Geschichte lehren: rechtsradikale Gewalttaten, Tote und Verletzte. Am Schluss wird dann, damit die Brandstifter Ruhe geben, das Leben der Opfer dieser Gewalttaten noch einmal verschlimmert. 

In den USA ist im Juni Pride Month: Firmen und Städte schmücken sich in Regenbogenfarben. Dieses Jahr finden die Festlichkeiten unter bedrohlichen Vorzeichen statt: Konservative Politiker:innen und rechte Gruppen protestieren gegen Drag Queens und die angebliche «Sexualisierung» von Kindern im Rahmen der Feste. Gewaltandrohungen und bewaffnete Aufmärsche begleiten auch noch die harmlosesten Events, wie etwa die Drag Queen Story Hour. Rechtskonservative Politiker:innen copypasten die Erregungswellen nach Europa, nach Deutschland, in die Schweiz.  

Früher, so der Tenor der Pride-Verteufler:innen, habe man nichts gegen Pride gehabt – aber jetzt nehme das Ganze eine neue, ungute Dimension an, und da seien Proteste gerechtfertigt. Nur: Die Kritiker:innen scheinen zu vergessen, dass sie auch vor zehn, fünfzehn, zwanzig, dreissig Jahren genauso geklagt haben. Auch damals hatte man ja «eigentlich» nichts gegen LGBTQI+-Personen, fand aber, dass diese «jetzt» halt zu weit gingen. Die Amnesie über das Unbehagen am Christopher Street Day vor zwanzig Jahren ist eine Vorbedingung, ja geradezu eine Lizenz für den Protest heute. 

Für diejenigen, die in der Gesellschaft Privilegien und Macht haben, muss vielleicht der alte Satz aktualisiert werden: Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern muss, der kann sie endlos wiederholen. Der hat das Privileg, sich alle paar Jahre über beinahe identische Dinge aufzuregen. Das Privileg, sich von den rhetorischen Exzessen, den Gewaltdrohungen, den Gewalttaten, die logisch auf diese Aufregungen folgen, distanzieren zu können. Und vor allem das Privileg, den entrichteten Blutzoll zu vergessen und in fünf, zehn, zwanzig Jahren die Spirale von neuem anzudrehen. Vielleicht aber spüren wir dies gerade dieser Tage so stark, weil dieses Privileg der Wiederholung auf eine Grenze trifft?

Immer freitags lesen Sie an dieser Stelle die Kolumne unseres Gastautors Adrian Daub. Der Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler lehrt als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik an der Universität Stanford. Er lebt in San Francisco und Berlin.