Den Hass abgreifen: Clickbaiting auf Twitter

«Miss Nederland ist erstmals eine Transfrau», vermeldete der «Blick» diese Woche, der Tweet zur Geschichte setzte noch «Von Rik zu Rikkie» hinzu. In den Antworten zum Tweet war dann zu lesen, was zu erwarten war: «ekelhaft», «krank», Clown-Emoji, Kotz-Emoji, Deadnaming. Mit anderen Worten: all das, was Twitter gewöhnlich hochwürgt, wenn Transpersonen ihr Leben leben und das Internet aus unerfindlichen Gründen den Zwang verspürt, seinen Senf dazuzugeben. 

Im Mai führte der «Spiegel» ein Interview mit dem Ausrichter eines Ferienlagers für Schwarze Kinder. Der Text selber stand hinter einer Paywall, wurde aber trotzdem per Tweet angekündigt. Dieser fing so an: «Weisse Menschen sollen möglichst fernbleiben. Die Organisation Empoca richtet besondere Outdoor-Camps aus.» Wie die Kommentare unter und über dem Tweet ausgesehen haben, können Sie sich vorstellen. 

Es gehört zum Wesen einer Redaktion, dass sie entscheidet, bestimmte Dinge zum Thema zu machen und andere nicht. Und es gehört zum Wesen einer Social-Media-Abteilung, dass sie Aufmerksamkeit auf die Erzeugnisse der Redaktion lenkt. Nur sollten wir uns erstens darüber im Klaren sein, dass es sich um zwei separate Schritte handelt: ein ausführliches Interview mit dem Ausrichter eines besonderen Sommercamps ist ein anderes mediales Objekt als ein Tweet darüber. 

Tweets mögen Kurznachrichten sein, aber wenn sie von traditionellen Medienhäusern lanciert werden, sind sie vor allem Werbung – sie wollen Aufmerksamkeit, sie wollen auf den Algorithmen der sozialen Netzwerke zu maximaler Verbreitung surfen, sie wollen unsere Klicks, sie wollen am Ende vielleicht unsere Abos. Und ein Tweet wie der des «Blicks» macht eben Werbung, indem er sich den Hass eines breiten Segments unserer Gesellschaft auf trans Personen zunutze macht. 

Es sollte zur Ethik unserer Medien gehören, zu dieser Tatsache auch zu stehen. Wer 2023 einen Tweet mit dem Satz «Weisse Menschen sollen möglichst fernbleiben» anfängt, weiss genau, was mit diesem Tweet passieren wird. Dass irgendeine rechtsextreme Bubble sich über den Satz aufregt, dass Stimmen, die von sich selbst sagen, sie seien eigentlich «klassische Liberale», über den «Rassismus im Namen des Antirassismus» die Stirn runzeln, dass ein Politiker der AfD den Tweet weiterverbreitet. Das alles nimmt derjenige, der den Tweet absetzt, in jenem Moment in Kauf. Und sollte sich nicht hinter dem generellen Schimpfen auf die Unbilden des Mediums, der Plattform, des Internets verstecken können. 

Wer im Sommerloch 2023 eine Story über eine Transfrau beim Schönheitswettbewerb schreibt, kann die Sache aus ganz verschiedenen Blickwinkeln angehen und kann sicher etwas Interessantes daraus machen. Aber Hand aufs Herz: Wer ernsthaft glaubt, dass ein Tweet zu dem Thema auf Elon Musks Twitter jemals anders gelaufen wäre, der hat noch keine Zeit auf Twitter verbracht. Und der muss sich aus genau dem Grund eigentlich fragen lassen, warum er Hass und Gewaltfantasien abgreift, um einer nicht mal besonders interessanten Story ein paar jämmerliche Klicks zu verschaffen.

Normalerweise freitags, diese Woche schon am Donnerstag, lesen Sie an dieser Stelle die Kolumne unseres Gastautors Adrian Daub. Der Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler lehrt als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik an der Universität Stanford. Er lebt in San Francisco und Berlin.