Steht das SEM über dem Bundesgericht?

Ach, diese Migrationsbehörden. Sind die eigentlich bloss inkompetent – oder versuchen sie ganz gezielt, die Grenzen des Zulässigen zu verschieben? Beides stimmt wohl ein bisschen. Neustes Beispiel ist eine Aktennotiz des Staatssekretariats für Migration (SEM). Was darin notiert wird, ist im besten Fall einfach ein Fehler. Im schlimmsten Fall kündigt es eine weitreichende Anpassung der geltenden Praxis an.

Doch von vorn: Die Behörde dokumentiert in dieser Notiz die Modalitäten einer bevorstehenden Ausschaffung nach Kroatien. Betroffen ist ein Ehepaar, das in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt hat, zuvor aber schon in Kroatien registriert worden war.

Zur Erinnerung: Es gilt die Dublin-Verordnung. Immer der erste Dublin-Staat, in den eine Person eingereist ist, ist für die Bearbeitung eines Asylgesuchs verantwortlich. In diesem Fall ist das – wie so oft – Kroatien, weswegen das SEM auf das Asylgesuch des Ehepaars in der Schweiz gar nie eingetreten ist, sondern sogleich zur Vorbereitung der Ausschaffung übergegangen ist.

Ausschaffungen erfolgen im Schweizer Asylregime bekanntlich schnell, effizient und zuverlässig. Dazu trägt auch die Ausschaffungshaft bei. Personen, die das Land verlassen müssen, können in den entsprechenden Gefängnissen inhaftiert werden, auch wenn sie nie straffällig geworden sind. Sie werden damit verfügbar gehalten – unter enorm restriktiven Haftbedingungen. Verantwortlich für die Anordnung und Durchführung von Ausschaffungshaft ist nicht das SEM, sondern der zuständige Kanton.

Bei Personen, die aufgrund der Dublin-Verordnung abgewiesen wurden, spricht man von Dublin-Haft. Die Voraussetzungen, die dafür gelten, hat das Bundesgericht 2016 eindeutig festgehalten: Wenn es «konkrete Anzeichen für eine erhebliche Untertauchensgefahr» gibt. Auch die Dublin-III-Verordnung ist in dieser Frage unmissverständlich: «Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt.»

Aber wer interessiert sich schon für solche juristischen Spitzfindigkeiten? Das SEM urteilt in seinem eingangs erwähnten Schreiben, dass gegen die betreffenden Personen «Haftgründe» bestünden. Nämlich dass sie womöglich untertauchen könnten? Nein. Sondern – gemäss SEM – weil sie Kroatien verlassen haben und in die Schweiz gereist sind, bevor ihr Gesuch dort abschliessend geprüft worden sei. Sie hätten damit «ihre Pflicht missachtet, sich den kroatischen Behörden zur Verfügung zu halten».

Nur gilt genau dieser Sachverhalt für praktisch alle Dublin-Fälle in der Schweiz, wie auch Lara Hoeft sagt. Die Juristin leitet die Anlauf- und Beratungsstelle Pikett Asyl. Diese Haftbegründung sei ihr bislang noch nie begegnet, sagt Hoeft. Und sie hat womöglich weitreichende Konsequenzen: Die Dublin-Haft bedinge keine richterliche Anordnung, erklärt Hoeft. Eine Verfügung des zuständigen Migrationsamts reiche dafür aus. Das Gericht muss über die Rechtmässigkeit der Inhaftierung nur befinden, falls die Betroffenen sie anfechten. Tun sie das nicht, ist es möglich, dass das Migrationsamt eine widerrechtliche Inhaftierung veranlasst, ohne dass es jemand merkt. Etwa auf Basis einer Aktennotiz wie derjenigen des SEM.

Dieses beschwichtigt auf Anfrage der WOZ. Zur Aktennotiz schreibt die Medienstelle des SEM: «Wir weisen lediglich auf die entsprechenden Gesetzesartikel zur Dublin-Haft hin.» Für die Haftanordnung seien aber «selbstverständlich» die kantonalen Instanzen zuständig. Und die geltenden rechtlichen Bestimmungen seien dem SEM «selbstredend ebenfalls bekannt».

Das ist auf jeden Fall gut zu wissen! Wieso das SEM der kantonalen Behörde Haftgründe nahelegt, ohne dass es dafür verantwortlich wäre, und wieso diese Haftgründe juristisch derart fragwürdig sind, bleibt aber ein ungeklärtes Geheimnis. Oder anders ausgedrückt: Wenn das tatsächlich kein Dilettantismus war – was war es dann?