Asylpolitik: «Die Frage nach einem Referendum steht im Raum»
Letzte Woche hat das Parlament erstmals die nationale Umsetzung des europäischen Asylpakts beraten und einen Teil davon überraschend abgelehnt. Simon Noori und Lara Hoeft vom Bündnis No Geas erklären die Hintergründe.

WOZ: Lara Hoeft, Simon Noori, Bundesrat Beat Jans bezeichnet die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) als «historischen Kompromiss». Und Sie?
Simon Noori: Historisch ist die Reform auf jeden Fall. Dieser Asylpakt sieht eine Verschärfung vor, die das Recht auf Asyl in bisher ungekanntem Mass einschränkt: Inhaftierungslager, beschleunigte Verfahren, schnellere Rückschiebungen ohne wirkliche Prüfung der Schutzwürdigkeit.
Lara Hoeft: Das ist kein Kompromiss, sondern ein rechtes Projekt. Die Reform wird keinerlei Probleme lösen, sondern zu einer Normalisierung von Abschottung und Entrechtung führen – und dazu, dass die rechten Forderungen in zwei Jahren noch weiter reichen werden.
Noori: Auf EU-Ebene ist der Pakt heute ja schon wieder kalter Kaffee. Da werden neue Verschärfungen geplant, und mehrere Länder, zum Beispiel Polen, haben angekündigt, dass sie Teile des Pakts nicht umsetzen werden, weil er ihnen zu wenig weit gehe.

WOZ: Letzte Woche hat auch der Nationalrat die Implementierung der Reform in der Schweiz diskutiert. Wie haben Sie die Debatte wahrgenommen?
Noori: Sie war erschreckend, weil über die Tragweite des Pakts gar nicht gesprochen wurde. Es ging bloss um die technokratische Verwaltung von Fluchtbewegungen. Unter der Prämisse, dass es generell ein Problem ist, wenn Leute in die Schweiz kommen. Einige betonten die Wichtigkeit von Grundrechten, während den meisten nicht bewusst zu sein schien, dass diese im Migrationskontext schon lange kaum mehr gelten. Die Debatte war also völlig losgelöst von den komplexen Realitäten der Migration und wurde dieser Reform nicht gerecht.
WOZ: Diskutiert wurde vor allem die Beteiligung der Schweiz am sogenannten Solidaritätsmechanismus. Worum geht es da?
Hoeft: Wenn in einem Land «besonderer Migrationsdruck» besteht, soll es Unterstützung von den anderen Staaten erhalten. Sie sollen finanzielle Hilfe leisten, Personal entsenden – oder Geflüchtete übernehmen. Es geht also nicht um Solidarität mit den Geflüchteten, sondern um Solidarität unter den Staaten. Die Schweiz wird sich, falls sie sich dereinst daran beteiligt, aus der Verantwortung rauskaufen können, statt tatsächlich Geflüchtete aufzunehmen. Das haben wir von Anfang an kritisiert.

WOZ: Mit der Abstimmung über das Gesamtpaket wurde der «Solidaritätsmechanismus» schliesslich versenkt. Ist zumindest das also eine gute Nachricht?
Noori: Das lässt sich nicht so pauschal sagen. Der Solidaritätsmechanismus ist Teil der Asyl- und Migrationsmanagementverordnung (AMMV). Anders als beim Rest der AMMV ist die Schweiz aber nicht verpflichtet, sich daran zu beteiligen. Dass der Bundesrat dennoch eine freiwillige Schweizer Beteiligung am Solidaritätsmechanismus vorgeschlagen hat, war das einzige «progressive» Element seines Umsetzungsvorschlags. Der Rat hat dieser freiwilligen Beteiligung zunächst auch mit einer Mitte-Links-Mehrheit zugestimmt, gegen den Willen von SVP und FDP. In der Gesamtabstimmung zur AMMV enthielt sich die FDP dann, weil sie eine noch restriktivere Umsetzung des Pakts fordert. Zusammen mit den Nein-Stimmen der SVP und der Grünen wurde also die gesamte AMMV abgelehnt – nicht nur der Solidaritätsmechanismus.
WOZ: Wieso waren die Grünen dagegen?
Noori: Sie haben ihre Zustimmung an die Forderung geknüpft, als Gegenleistung für die Verschärfungen auch Verbesserungen zu beschliessen. Das Nein war also konsequent – und auch wichtig: als Zeichen des linken Protests.
WOZ: Fast alles spricht dafür, dass die AMMV im Ständerat – und in der zweiten Runde auch im Nationalrat – doch noch angenommen wird. Worum geht es dabei im Kern?
Hoeft: Die AMMV ersetzt die heutige Dublin-III-Verordnung. Sie regelt, welcher Staat für die Prüfung von Asylgesuchen zuständig ist. Auch künftig bleibt das in den meisten Fällen derjenige, in den eine Person als Erstes eingereist ist. Das heisst: Die Grundprinzipien von Dublin werden beibehalten, die konkreten Regelungen werden aber deutlich verschärft.
WOZ: Wo kommt der Solidaritätsmechanismus ins Spiel?
Noori: Auf europäischer Ebene hatte man zu Beginn der Geas-Reform noch diskutiert, die ganze Absurdität des Dublin-Systems endlich zu überwinden: dieses Herumschieben von Geflüchteten. Und stattdessen ein sinnvolleres System zur Verteilung von Verantwortung zu schaffen. Worüber wir jetzt reden, ist das, was davon noch übrig ist: nicht viel.
Hoeft: Man hätte das Dublin-System so reformieren müssen, dass bei der Zuteilung des zuständigen Staates die Bedürfnisse und Wünsche der Geflüchteten im Vordergrund stehen. Welche Sprache sprechen sie schon? Wo lebt ihre Familie, wo haben sie vielleicht Bekannte? Wo möchten sie überhaupt leben? Am Beispiel der Ukrainer:innen hat man gesehen, dass das funktioniert. Das Dublin-System wurde da nicht angewandt. Darauf hätte man aufbauen können.
WOZ: Es kam anders. Welche Folgen hat die Implementierung der Geas-Reform in der Schweiz ganz konkret? Betrifft sie nicht ohnehin vor allem die Länder an den EU-Aussengrenzen?
Hoeft: Darauf wird sie medial oft beschränkt. Auch die Regeln für die Aussengrenzen betreffen allerdings die Schweiz, obwohl sie manche Verordnungen nicht übernehmen muss. Andere Teile der Reform haben auch innerhalb der Schweiz sehr konkrete praktische Konsequenzen, etwa die Regelungen der neuen AMMV. Sie betreffen praktisch alle Personen, die in die Schweiz einreisen, um ein Asylgesuch zu stellen, weil es ja kaum eine Möglichkeit gibt, hierhin zu gelangen, ohne vorher durch ein EU-Land gereist zu sein. Man muss dabei immer im Hinterkopf behalten, dass das Personen sind, deren Asylgesuche noch gar nicht geprüft worden sind. Ihre Situation verschlechtert sich durch die neue AMMV erheblich.
WOZ: Inwiefern?
Hoeft: Mehrere Fristen werden zuungunsten der Geflüchteten angepasst. Ein Beispiel: Wenn heute jemand für drei Monate das Territorium der Mitgliedstaaten verlässt, erlischt die Zuständigkeit des Dublin-Staats. Diese Frist wird auf neun Monate erhöht.
WOZ: Man muss sich also dreimal so lange ausserhalb des Schengen-Raums aufhalten, um dann in einem anderen Staat ein Asylgesuch stellen zu können.
Hoeft: Ja. Und eine weitere Verschlechterung: Heute gilt, dass die Schweiz nach maximal achtzehn Monaten für eine Person, die sich hier aufhält, zuständig wird. Künftig kann das bis zu drei Jahre dauern. Während dieser Zeit sind die betroffenen Personen von Bildung, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Ohne dass ihr Asylgesuch überhaupt geprüft wurde. Neu sollen ausserdem unbegleitete Minderjährige ausgeschafft werden können.
WOZ: Aber wird das überhaupt etwas mit der Realität zu tun haben? Das Dublin-System ist gescheitert. Italien nimmt ja zum Beispiel schon lange niemanden mehr zurück.
Hoeft: Diese Verschärfungen haben Folgen für die Asylsuchenden – unabhängig davon, ob sie irgendwann tatsächlich ausgeschafft werden können. Es ist aber auch wichtig festzuhalten, dass Dublin für die Schweiz leider schon funktioniert. Sie schafft auf dieser Grundlage deutlich mehr Leute aus, etwa nach Kroatien, als sie aufnehmen muss.
Noori: All diese Verschärfungen sind im Parlament aber überhaupt nicht debattiert worden. Es reichte, dass der Bundesrat darauf verwies, dass sie Teil des Dublin-Schengen-Besitzstands seien und die Schweiz daran nichts mehr ändern könne.
WOZ: Man könnte sie aber natürlich ablehnen – und damit den Austritt aus dem Schengener Abkommen in Kauf nehmen. Fordern Sie das?
Noori: Die Frage nach einem Referendum steht natürlich im Raum. Wir diskutieren das, haben in den letzten Wochen unsere Kräfte aber vor allem darauf verwendet, die linken Parteien bei der Ausarbeitung von Änderungsanträgen zu unterstützen. Nun geht es darum, dass diese Reform mehr Aufmerksamkeit erfährt.
WOZ: Eine der wichtigsten Forderungen der Ratslinken war die Einführung eines neuen Schutzstatus, des subsidiären Schutzes. Was hat es damit auf sich?
Hoeft: Diese Forderung haben wir schon sehr früh eingebracht. Weil wir von Anfang an fanden: Wenn man sich jetzt an all diesen krassen Verschärfungen beteiligt, soll man wenigstens auch einige Verbesserungen aus EU-Standards übernehmen, zum Beispiel eben die Rechte, die mit dem subsidiären Schutz, den es in den EU-Ländern gibt, einhergehen. Das ist das Pendant zur vorläufigen Aufnahme in der Schweiz.
WOZ: Was würde sich damit verbessern?
Hoeft: Der vielleicht wichtigste Unterschied ist, dass der subsidiäre Schutz ein Aufenthaltstitel ist, ein positiver Rechtsstatus. Die vorläufige Aufnahme besagt dagegen, dass ein Asylgesuch abgelehnt, eine Ausschaffung aber nicht möglich ist. Sie ist also negativ definiert, ist rechtlich bloss eine «Ersatzmassnahme für eine nicht vollziehbare Wegweisung». Das ist rechtlich eine ganz andere Situation. Das System zu reformieren, wird schon lange gefordert. Der subsidiäre Schutz sieht im Gegensatz zur vorläufigen Aufnahme etwa mehr Reisefreiheit und die einfachere Umwandlung in einen dauerhaften Aufenthaltstitel gemäss der EU-Daueraufenthaltsrichtlinie vor. Wir sind der Meinung, dass die Schweiz in dieser Frage jetzt nachziehen sollte.
WOZ: Damit sind Sie im Rat aufgelaufen. Woran sind die Bemühungen gescheitert?
Noori: Am Bundesrat, der sich dagegen ausgesprochen hat. Ausserdem hat die SP unserer Meinung nach nicht genug Druck gemacht. Sie wollte ihre Zustimmung zum Gesamtpaket, anders als die Grünen, nicht an die Einführung des neuen Status knüpfen. Darauf hatten wir eigentlich gehofft.
WOZ: Ist der subsidiäre Schutz damit vom Tisch?
Noori: Wahrscheinlich schon, ja. Er müsste im Ständerat noch einmal neu eingebracht werden. Die Erfolgschancen sind aber gering, wenn nicht wenigstens die SP mitzieht.
WOZ: Wenig Beachtung erfährt die Reform der Eurodac-Datenbank, in der heute vor allem Fingerabdrücke von Einreisenden erfasst sind. Sie soll nun erheblich ausgebaut werden.
Noori: Die fällt immer unter den Tisch, dabei ist sie bedeutend. Eurodac wird damit zu einer umfassenden Migrationsdatenbank ausgebaut, mit Daten über Sans-Papiers, Asylsuchende, Personen mit Status S. Neu werden darin nicht mehr nur Fingerabdrücke, sondern auch Gesichtsbilder und persönliche Daten, etwa über die Herkunft, abgespeichert – auch von Kindern, die älter als fünf Jahre sind. Jeder Verwaltungsschritt innerhalb der EU-Migrationsverfahren soll nachvollziehbar gemacht – und den Polizeien, bis hin zur Stadtpolizei, zugänglich gemacht werden. Das ist ein riesiger neuer Datenschatz, den sie jetzt nutzen dürfen.
WOZ: Wie vernetzt sind Sie mit zivilgesellschaftlichen Initiativen in anderen Schengen-Ländern? Gibt es auch andernorts noch Widerstand gegen die Geas-Reform – oder haben alle schon längst aufgegeben?
Hoeft: Das Problem ist natürlich, dass man an der EU-Gesetzgebung nichts mehr ändern kann. Aber es gibt schon Vernetzung, etwa in der Gruppe General Assembly against the Pact, in der sich Hunderte Aktivist:innen aus verschiedenen Ländern Europas organisiert haben, um sich über mögliche Aktionen auszutauschen.
WOZ: Hier in der Schweiz hat die Kampagne gegen das Geas nie so richtig Fahrt aufgenommen. Woran liegt das?
Noori: Das Geas erhält viel weniger Aufmerksamkeit, als es verdient hätte. Das liegt sicher auch daran, dass die Reform sehr komplex ist. Das macht es schwieriger, sie zu skandalisieren. «Fristverlängerung» etwa ist kein Schlagwort, das die Menschen vom Hocker haut, so folgenschwer solche Anpassungen auch sein mögen. Hinzu kommt, wie gesagt, dass einige der Geas-Schlüsselelemente, etwa die Einführung der sogenannten Grenzverfahren an den Aussengrenzen, von der Schweiz gar nicht übernommen werden müssen. Auch deshalb haben wir uns zunächst dazu entschieden, uns auf den parlamentarischen Prozess und seine mühsame Detailarbeit zu konzentrieren.
WOZ: Hat sich das gelohnt?
Hoeft: So wie es jetzt aussieht, auf Basis dessen, was der Bundesrat vorgeschlagen und der Nationalrat durchgewunken hat, muss man sagen: Der Schweiz wird wohl wieder einmal das traurige Kunststück gelingen, alles zu übernehmen, was den Status der Geflüchteten schwächt – und alles abzulehnen, was ihre Situation verbessern würde. Jeglichen Spielraum, den die EU bietet, nutzt sie zuungunsten der Asylsuchenden.
Simon Noori (43) ist Kogeschäftsleiter von Solidarité sans frontières und Vorstandsmitglied der Freiplatzaktion Zürich.
Lara Hoeft (28) ist Juristin und Kogeschäftsleiterin von Pikett Asyl.
Parteienknatsch: Weitgehend machtlos
Der Asylpakt ist ein sperriges, bürokratisches Monstrum (wenn Sie nebenstehendes Interview gelesen haben, gönnen Sie sich eine Belohnung). Und die Vorlage sorgt auch im Parlament für Ratlosigkeit. Das zeigt sich am Knatsch der linken Parteien.
«Wir haben uns darauf konzentriert, was realpolitisch möglich ist», sagt SP-Nationalrätin Nina Schläfli. «Der Solidaritätsmechanismus, ein ausgebauter Rechtsschutz, das sind zwei zentrale Punkte, die wir durchgebracht haben.» Jedoch wurde die Verordnung im Nationalrat insgesamt abgelehnt. Darüber hinaus hätte die SP auch die Einführung des subsidiären Schutzstatus unterstützt – wofür sich keine Mehrheit fand. Letztlich sei die Zustimmung zur Verordnung alternativlos, «weil die Beteiligung am Schengener Abkommen sonst grundsätzlich infrage steht, was sicher nicht zu besseren Lösungen für die Geflüchteten führen würde».
Die Verordnung scheiterte an den Stimmen der Grünen. Diese hoffen, mit ihrem Nein Druck aufbauen und noch Verbesserungen erreichen zu können. Im Ständerat beginnt die Diskussion jetzt von vorn. Schläfli fürchtet, dieser mache die Vorlage noch repressiver. Und sagt in Richtung der Grünen: «Eine linke Partei ist jetzt in der Pflicht.»
Deren Nationalrat Balthasar Glättli entgegnet: «Wenn man von Anfang an sagt, die Verordnung müsse ohnehin angenommen werden, kann man schwer Druck aufbauen.» Die wenigen Verbesserungen aus dem Nationalrat seien erfreulich, gingen aber zu wenig weit: «Da geht es auch um eine Grundhaltung», sagt Glättli und verweist darauf, dass schon im EU-Parlament der Migrationspakt nur dank der grossen Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion durchgekommen sei.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Grünen in der Asylpolitik eine pointiertere Haltung einnehmen. So war es zuletzt auch beim Frontex-Referendum, mit dem es der Linken erstmals seit langem gelang, die Debatte über die Asylpolitik aus den Untiefen der Realpolitik zu hieven. Viel gebracht hat aber auch das nicht.