24-Stunden-Betreuung ist ein Job!
Zum Beispiel Agnesa Kowalski*, 62 Jahre alt. Polnische Staatsbürgerin. Die Frau arbeitet seit über einem Jahrzehnt in verschiedenen europäischen Ländern als 24-Stunden-Pflegerin, seit mehreren Jahren in der Schweiz.
Ihre Erfahrungen, die sie im Juni der WOZ geschildert hat, sind haarsträubend: Da war der gut siebzigjährige Mann, der wenig pflegebedürftig gewesen sei und sie abends auf dem Sofa jeweils zu begrapschen versucht habe. Da war das alte Paar, das ihr verboten habe, von den Mahlzeiten zu essen, die sie selbst frisch zubereitet hatte. Der Mann: gewalttägig, auch gegenüber seiner dementen Frau.
Zwischen 10 000 und 30 000 sogenannte Care-Migrantinnen wie Kowalski arbeiten gemäss Schätzungen in der Schweiz, die meisten wie sie in der 24-Stunden-Pflege. Arbeitsrechtlich sind sie bislang kaum geschützt. Doch das könnte sich nun endlich ändern: Gestern Mittwoch hat der Nationalrat ein Postulat von SP-Parlamentarierin Samira Marti überwiesen, die die 24-Stunden-Betreuung dem Arbeitsgesetz unterstellen will. Der Bundesrat ist nun verpflichtet, in einem Bericht entsprechende Optionen auszuarbeiten.
Der Nationalratsentscheid ist ein weiterer Erfolg im Arbeitskampf der Betreuer:innen, die sich in den vergangenen Jahren zunehmend gewerkschaftlich organisiert haben und bereits im Februar 2022 einen Teilerfolg erzielten: Damals entschied das Bundesgericht, dass die Betreuung in Privathaushalten dem Arbeitsgesetz unterstellt werden müsse. Das Urteil hatte jedoch einen fetten Haken: Das Bundesgericht beschränkte sein Verdikt auf Arbeitsverhältnisse, die über eine dritte Instanz, etwa einen Personalverleih, vermittelt werden – ein Riesenschlupfloch, vor allem vor dem Hintergrund, dass schon heute ein Grossteil der Betreuer:innen privat oder über eine ausländische Firma vermittelt werden.
Das Verständnis, dass private Arbeitsverhältnisse Privatsache seien, ist zutiefst patriarchal: Das Schweizer Arbeitsgesetz mit der entsprechenden Regelung stammt aus der Zeit der Industrialisierung und widerspiegelt, wie sehr frauentypische Arbeit geringgeschätzt wurde – und wird. Im Parlament übrigens waren SVP und FDP offiziell gegen Martis Vorstoss, die Parteien befürchten wohl ein Übergreifen des besseren Arbeitsschutzes auf andere private Arbeitsbereiche wie etwa die Landwirtschaft. Einige bürgerliche Abweichler:innen verhalfen dem Vorstoss dann aber zum Durchbruch.
Zu Ende geführt ist der Kampf der Care-Arbeiter:innen noch lange nicht: Liegt der Bericht des Bundesrats erst einmal vor, müsste das Parlament dafür den Bundesrat verbindlich mit der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage beauftragen.
* Name geändert.
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