Semesterstart: Einstieg in eine Fiktion

Die Jugend als Projektionsfläche für die Nichtjugend dürfte zu den ältesten Traditionen der Menschheit gehören. Denn alle Alten waren einmal jung, und während die Zeit die Erinnerung an ihre eigene Jugend immer stärker verzerrt, sind sie gezwungen, der neuen Jugend beim Jungsein zusehen zu müssen. Dass sich dabei der Eindruck aufdrängt, die Jungen machten Jungsein falsch, ist verständlich. Diese Woche hat in Stanford das Semester angefangen, und die Generationen treffen sich einmal mehr wieder.

Der US-amerikanische Campus, auf dem sich Jugend vor betont invarianter Efeu-und-Kreuzgang-Kulisse Jahr für Jahr neu inszenieren kann, ist ein Ort beträchtlicher Sorge, beträchtlichen Interesses und kultureller Fixierung. Medien, Literatur, Popkultur schenken dem amerikanischen Campus seit jeher eine grosse Aufmerksamkeit. Spätestens seit den sechziger Jahren ist diese Aufmerksamkeit auch in der grossen Politik wirkmächtig: Die Vorstellung, dass das, was an fernen Uni-Campussen, von denen man vorher noch nie etwas gehört hatte, vorgeht, einen trotzdem angeht und vielleicht sogar die eigenen politischen Überzeugungen beeinflussen sollte, ist in den USA weitverbreitet.

Man attestiert den US-Amerikaner:innen eine Entfremdung vom College. Das Gegenteil ist der Fall: Das Unheil liegt darin, dass viele meinen, das College besser zu kennen, als sie es wirklich tun. Die Insass:innen der «groves of academe» denken, forschen, lehren längst in den Fiktionen anderer.

Die Rückkehr auf den Campus, dieses Kastalien, ist eine Rückkehr in einen Prozess, der für die Insass:innen weitaus mysteriöser und unverständlicher zu sein scheint als für den Rest der Welt. Unsere Glasperlenspiele werden auch dieses Jahr argwöhnisch beobachtet werden – sie sind zu abgeschottet vom Rest der Welt, oder nicht abgeschottet genug; sie sind umstürzlerisch oder nicht umstürzlerisch genug. Und sie sind reine Glasperlenspiele. Oder sie sind es nicht, was noch schlimmer ist.

Zu all dem gesellt sich als verkomplizierender Faktor, gerade in den USA, natürlich der Kapitalismus: Das Zusammenleben der Generationen hier ist nicht unabhängig von dem Geld, das zur historistischen Architektur und zu den hochtrabenden Gebäudenamen geronnen ist. Ein Leichtes für Ältere, gerade dem Campus Fremde, hier vor allem Privilegien zu erblicken: junge Menschen, die sich zwischen den frisch gemähten Rasen und der kostenlosen Mensa räkeln. Das gibt dem Blick vieler auf jedweden Radikalismus dieser jungen Menschen immer schon eine ironische Note.

Aber es handelt sich dabei um ein vorschnelles Urteil. Denn man kann ihre Position auch so interpretieren: Sie begeben sich in lebenslange Schulden für eine Ausbildung, für die die Generationen, die sie unterrichten (und die, die sie heute gerne verurteilen), noch einen Bruchteil entrichten mussten. Sie werden auf ein politisches System hin ausgebildet, das einigermassen wackelt und dessen Fortbestand von den jeweiligen Perspektiven zweier Herzen, eines achtzigjährig, das andere neunundsiebzigjährig, abhängt.

Sie werden diese Schulden abstottern in einem wirtschaftlichen System, das ihre Lebenswelt während ihrer Lebenszeit ruinieren wird. Und das getragen wird von jenen, nach denen – anders als in Europa – die schicken Gebäude heissen und die Professuren derer, die sie unterrichten. Das gibt dem Blick vieler auf jedweden Radikalismus dieser jungen Menschen immer schon etwas Selbstverständliches.

Projektionen sind das so oder so, eine Einladung, die jungen Menschen einmal mehr zu Ikonen zu stilisieren. Ein Ansporn, mit Fiktionen zu leben.
Immer freitags gab es an dieser Stelle die Kolumne unseres Gastautors Adrian Daub zu lesen. Dieser Beitrag ist der letzte Text dieser Reihe. Wir bedanken uns bei Adrian Daub ganz herzlich und freuen uns auf weitere Gastbeiträge in der Zukunft. Als Nachfolgerin übernimmt ab 6. Oktober die Gewerkschafterin und Aktivistin Migmar Dolma die Freitagskolumne.