Keine Wahl im Überlebensmodus
Sonntagabend. Ich sitze noch am Esstisch und fülle meine Wahlliste aus. Meine Mutter setzt sich aufs Sofa, streckt ihre Beine aus und zeigt mit dem Finger auf ihr Wahlcouvert: «Bitte, bitte, kannst du meinen Wahlzettel auch noch ausfüllen?»
Viele Menschen aus der Unterschicht interessieren sich nicht für Wahlen. Zum Beispiel meine Mutter. Sie arbeitet seit dreissig Jahren acht bis zehn Stunden täglich. Seit einiger Zeit plagen sie chronische Knie- und Nackenschmerzen. Sie sorgt sich darum, dass sie am nächsten Morgen um fünf Uhr aufstehen muss. Wenn in ihrem Betrieb wieder einmal eine Arbeitskollegin entlassen wird, geht es ihr tagelang nicht gut. Die Politik in Bern befindet sich in ihrer Wahrnehmung sehr weit weg von ihrem eigenen Leben. Und obwohl sie seit über fünfzehn Jahren das Schweizer Bürgerrecht besitzt, befasst sie sich kaum mit Abstimmungen und Wahlen. Woher kommt diese Politikverdrossenheit?
Menschen wie meine Mutter sind in erster Linie damit beschäftigt, zu überleben. Überleben bedeutet nicht nur, am Leben zu bleiben. Überleben bedeutet hier auch, dass man die Miete und die Rechnungen bezahlen kann. Denn schafft man das nicht, erhält man Zahlungsbefehle vom Betreibungsamt – und wenn man diese nicht bezahlen kann, steht irgendwann die Polizei vor der Tür. Finanzielle Probleme können existenzbedrohend sein. Menschen, die jeden Monat von neuem ums Überleben kämpfen müssen, leben in einem dauerhaften Stresszustand. Dann bedeutet der Alltag maximale Überforderung. Die einzige Überlebensstrategie: Kopf nach unten und den Tag hinter sich bringen. Schliesslich müssen sie trotz allem am nächsten Tag zur Arbeit erscheinen. Für Politik bleibt nicht wirklich Zeit, sie wird zur Nebensache. Oder besser: Sie wird zur Nebensache gemacht! Armut zwingt dazu, mit unmittelbar Existenziellem beschäftigt zu bleiben.
In der Schweiz stimmen wir alle gemeinsam über Gesetze ab und wählen unsere Vertreter:innen ins Parlament – so die Theorie. Das klingt gut. Aber in der Realität sind politische Teilhabe und politische Bildung ein Privileg. Dieses Privileg bedingt zunächst mal das Bürgerrecht und kommt danach vor allem den Menschen der mittleren und oberen Schichten zugute: Sonntags lesen die Eltern Zeitung, am Tisch politisieren die Eltern mit den Kindern, fragen die Kinder nach ihrer Meinung. Das ist gut und wichtig, aber es ist eben nicht für alle so. Es ist nicht die Realität der Unterschicht. Wer trotz Arbeit arm ist, kommt oft erst gar nicht dazu, an etwas anderes zu denken als an den nächsten Tag. Dieser Zustand ist entmenschlichend. Armut entschmenschlicht. Das politische Denken und Handeln bleibt den armen Menschen verwehrt. So funktioniert Klassengesellschaft. Die Kleinen werden kleingehalten.
Und dennoch. Nach mehreren Aufforderungen setzt sich meine Mutter dann doch zu mir an den Tisch. Sie füllt ihre eigene Wahlliste aus. Dabei amüsiert sie sich und reisst die ganze Zeit Witze. Ganz so ernst nimmt sie die Sache offenbar immer noch nicht. Und am nächsten Morgen muss sie wieder um fünf Uhr aufstehen.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.