It’s the classfight, stupid!

«Die verdienen doch alle viel Geld und leben in schönen Stadtwohnungen», entgegnet mir eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, als ich sie zu überzeugen versuche, links zu wählen. Ich weiss nicht, für welche Partei sie sich schlussendlich entschieden hat. Was ich weiss: Viele Menschen mit kleinem Budget haben die SVP gewählt. Über dreissig Prozent der Wähler:innenschaft der Partei verdienen monatlich weniger als 4000 Franken. Das Absurde daran: Die SVP vermarktet sich nach wie vor als die Partei der kleinen Leute, betreibt aber eine Politik, die gegen unten zielt. Für geringverdienende Menschen wird der Rechtsrutsch vom vergangenen Wahlwochenende katastrophale Auswirkungen haben.

Die soziale Frage wird immer dringlicher: In den letzten Jahren sind die Mieten und die Krankenkassenprämien weiter stark gestiegen, die Coronapandemie hat Tausende von Menschen in die Armut getrieben, während eine kleine Minderheit grosse Profite aus ihr geschlagen hat. Die Schlangen vor der Essensausgabe sind auch im reichsten Land der Welt länger geworden. Wie kann es dann sein, dass es linke Parteien trotzdem nicht geschafft haben, diese Wahlen zu gewinnen, diejenigen Menschen für den Gang an die Urne zu mobilisieren, die am unteren Ende der Gesellschaft leben?

Die Arbeiter:innen in diesem Land stehen vor dem Abgrund. Immer häufiger arbeiten sie temporär und haben konstant Angst davor, ihren Job zu verlieren. Die Zukunft macht ihnen Angst, und sie suchen nach Antworten auf existenzielle Fragen. «Wieso geht es mir immer schlechter, obwohl ich bis zum Umfallen arbeite?» Die Rechtspopulisten, in den meisten Fällen Menschen, die nicht selbst von Lohnarbeit abhängig sind, haben eine einfache Antwort parat: «Die Ausländer:innen sind schuld an deiner Misere.» So manipulativ, falsch und hetzerisch diese Antwort auch sein mag, sie ist für viele, selbst migrantische Arbeiter:innen, verführerisch. 

Was hatte die Linke dieser Verführung entgegenzusetzen? Eines der Wahlkampfthemen der SP war die Kaufkraft. Die Forderung nach deren Stärkung – eine wichtige Notmassnahme – ist aber noch keine politische Vision. Es gibt sehr viele in diesem Land, die dieses Wort nicht einmal kennen. Wo blieb die Vision für unsere Zukunft? Wer hat eigentlich in diesem Wahlkampf über Arbeit und Armut gesprochen? Wieso scheuen sich alle davor, über die Klassengesellschaft zu sprechen? Sie ist der Grund und die Ursache der sozialen Krisen. Die Reichen werden reicher auf Kosten der Ärmeren. Wie können die linken Parteien deren Interessen wieder vertreten? Die Interessen derjenigen, die unter 4000 Franken verdienen?

Die linken Parteien brauchen mehr Arbeiter:innen! Menschen aus der Unterschicht, Menschen mit Armutserfahrung. Es braucht eine neue Politik und eine neue Sprache. Erst wenn die alleinerziehende Mutter nicht nur die Linken wählt, sondern selbst für die linken Parteien kandidiert und sich ihre Lebensrealität in der täglichen Parteipolitik widerspiegelt, kann es wieder eine Chance auf eine echte linke Politik geben.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten. 

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Kommentare

Kommentar von Balmain

Fr., 27.10.2023 - 18:11

Guten Morgen,

Warum sollte man nie über die radikale Linke reden, wenn man von der „Linken“ spricht?
Weißt du, derjenige, der bereits versucht, Arbeiter vorzustellen?

Ist die SP tatsächlich so sehr links?

Ich überlasse es Ihnen, darüber nachzudenken.