Rot-grüne Beziehungskrise: Risse im Machtpakt
Die Grünen wollen in den Bundesrat, zur Not auch auf Kosten der SP. Was ist davon zu halten? Antworten aus der Forschung – und aus dem Strandbad Tennwil.
Im grossen Festzelt des Arbeiterstrandbads von Tennwil steht einsam ein Genosse am Buffet und wartet darauf, bedient zu werden. Die Älplermagronen sind direkt vor ihm und doch unerreichbar. Denn die Angestellten haben den Service vorübergehend eingestellt. Sie stehen gedrängt in einer Ecke und schauen beseelt nach vorne zur Bühne, wo SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider das Zelt mit Wellen der Wärme flutet.
«Fest der Solidarität» heisst der Anlass am Hallwilersee, ins Leben gerufen hat ihn vor ein paar Jahren SP-Kopräsident Cédric Wermuth. Prominente deutsche Linke wie Kevin Kühnert oder Gregor Gysi waren schon da. Und nun eben Baume-Schneider als grosse Kümmerin. Sie würdigt die Schönheit der Landschaft, würdigt den längst pensionierten Aargauer SP-Regierungsrat Urs Hofmann und den eben zurückgetretenen Paul Rechsteiner, der sie einst zum Zuhören anhielt, als sie im Ständerat immer Fragen stellte. Plötzlich entdeckt sie Jacqueline Badran im Publikum: «Du bist auch da! Dabei bist du gar nicht von hier. Du bist einfach überall!»
Eine sozialdemokratische Familienfeier findet in Tennwil statt. Und vor allen Dingen: eine Gelegenheit zur Selbstvergewisserung. Nach dem angekündigten Rücktritt von Innenminister Alain Berset aus dem Bundesrat besteht dafür durchaus Bedarf. Denn der alte Machtpakt mit den Grünen zeigt Risse – und zwar spätestens seit die grüne Fraktionschefin Aline Trede erklärte, ihre Partei könnte Anspruch auf Bersets frei werdenden Sitz erheben.
Selbstvergewisserung heisst bei der SP im Moment auch Selbstberuhigung. Wermuth weist Tredes Planspiel von sich: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Grünen unseren Sitz angreifen werden», sagt er. «Ein Streit in der Linken würde nur SVP und FDP etwas bringen, und der Schaden für die linken Kräfte in der Schweiz wäre unabsehbar, würden die Grünen tatsächlich der SP einen Sitz abjagen. Denn damit wäre ein dritter Bundesratssitz für beide Parteien für lange Zeit vom Tisch.»
Auf Distanz zur SP
Doch was ist, wenn den Grünen alle anderen Wege zur Macht versperrt bleiben? Warum sollten sie dann immer noch hinter den Sozialdemokrat:innen zurückstehen? Von einer «Emanzipation, die noch nicht abgeschlossen ist», sprach Aline Trede im «Blick», als sie nach dem Verhältnis zur SP gefragt wurde. Das klingt nach einem forcierten Ausstieg aus einer ungleichen Beziehung.
Und tatsächlich hat sich diese Beziehung seit dem grünen Wahlerfolg 2019 verändert, das anerkennt auch Cédric Wermuth. Heute befände man sich auf Augenhöhe, versichert er. Schwesterparteien seien sie aber deswegen keine, er mag den Begriff nicht. Distinktion, gerade im Wahljahr, muss sein. Wermuth spricht von einer «funktionierenden Partnerschaft» zwischen den beiden Parteien, die sich in der laufenden Legislatur gefestigt habe. Und die auch jetzt nicht erschüttert werde.
Will man das Verhältnis zwischen SP und Grünen verstehen, blättert man am besten nicht nur vier Jahre zurück, sondern vierzig. 1983 war es, als kurz nacheinander gleich zwei nationale grüne Organisationen entstanden: die gemässigten Grünen und die alternativen Grünen. «Beide Bewegungen hatten mit der SP anfänglich wenig am Hut», sagt Politikwissenschaftler Werner Seitz. Pünktlich zum Jubiläum der heutigen Grünen hat er mit Kollegin Sarah Bütikofer das Buch «Die Grünen in der Schweiz» herausgegeben.
Die gemässigten Grünen waren vor allem in der Westschweiz stark, ihr erster Vorläufer hatte sich gegen ein Autobahnprojekt in Neuchâtel formiert. Mit ihrer Wachstumskritik sahen sie sich, so ihr erster Generalsekretär Bernhard Pulver, «ausserhalb eines Links-rechts-Schemas». Die alternativen Grünen, zu denen sich bald auch die Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch) oder die frühere Revolutionär-Marxistische Liga (RML) gesellten, konnten hingegen wenig mit dem Politikstil und dem Gedanken von Konkordanz und Sozialpartnerschaft anfangen, wie ihn die SP hochhielt.
Die beiden grünen Organisationen unterschieden sich nicht nur im Inhalt, sondern auch im Politikverständnis. Die gemässigten Grünen setzten bald auf die Gründung einer ordentlichen Partei, die alternativen verstanden sich mehr als Plattform. Sie wollten die Welt auf der Strasse verändern, mit den grossen Demonstrationen gegen AKWs, gegen Aufrüstung und die Armee. «Einige der damaligen Basisaktivisten, die machtkritisch eingestellt waren, empfanden die Gründung einer Partei wohl als eine eher bünzlige Angelegenheit», sagt Politologin Bütikofer. Den Weg zu den heutigen Grünen beschreibt sie als «langsames Ankommen in den politischen Strukturen der Schweiz».
In diesem Prozess schlossen sich immer mehr alternative Gruppen der gemässigten Partei an – was diese programmatisch nach links rückte. Die ersten Nationalräte der Grünen hatten noch rechts der SP politisiert. «Die Grünen wurden erst eine starke Partei, als die beiden Strömungen zusammenfanden. Die einen brachten die Strukturen mit, die anderen den Schwung der sozialen Bewegungen», bilanziert Seitz. Mit einem Effekt allerdings: Weil sich die SP als klassische Arbeiter:innenpartei im gleichen Zeitraum ebenfalls für die neuen Mittelschichten öffnete, wurden die beiden linken Parteien programmatisch ziemlich deckungsgleich und adressieren heute eine ähnliche Wähler:innenschaft.
Mit einem entscheidenden Unterschied: «Eine gewisse Skepsis, sich mit der Macht zu arrangieren, ist den Grünen aus der Geschichte geblieben», sagt Bütikofer. Nicht eben die einfachste Voraussetzung, um im Verwaltungsrat des Schweizer Systems anzukommen: im Bundesrat.
Der heutige Parteipräsident Balthasar Glättli sieht das erwartungsgemäss anders. Er sagt: «Mit dem Einzug in den Bundesrat wäre der lange Marsch durch die Institutionen abgeschlossen.» Er habe selbst lange geglaubt, ein Sitz im Bundesrat sei nicht nötig, um grüne Politik durchzusetzen. «Doch um im Machtdreieck zwischen Ständerat, Nationalrat und Bundesrat mehr bewirken zu können, ist ein Sitz in der Regierung essenziell.» Glättli sagt im Hinblick auf die Klimakatastrophe: «Die grösste Frage des Jahrhunderts hat zu wenig Gewicht im Bundesrat.» Auch die SP-Bundesrät:innen hätten die bürgerliche Hegemonie zum Beispiel beim Autobahnausbau kaum gestört.
Das klingt nicht danach, dass sich Glättli zugunsten der SP weiterhin mit einem Platz auf der Ersatzbank begnügen will. Er sagt: «Wir sind erwachsen geworden und pflegen mit der SP eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Die neue Fraktion wird alle Szenarien prüfen, um unseren Sitzanspruch geltend zu machen. Sicher ist nur: Wir werden antreten.» Doch entscheidend für die Legitimität der eigenen Ansprüche, das weiss auch Glättli, ist das Abschneiden seiner Partei bei den Parlamentswahlen im Oktober.
Erfolgreich nach Katastrophen
Die Wahlerfolge der Grünen folgten historisch lange einem ähnlichen Muster. Zugespitzt formuliert, war die Partei immer dann erfolgreich, wenn Umweltfragen die öffentliche Debatte bestimmten. Und sie gewann ihre Stimmen meist auf Kosten der SP. So etwa 1987 nach dem Reaktorbrand von Tschernobyl und der Chemiekatastrophe in Schweizerhalle, als die grünen Listen erstmals rund sieben Prozent erreichten. Die SP verlor deutlich.
Langsam, aber stetig kamen die Grünen in Reichweite der SP. Erst vereinigten sie rund ein Fünftel der linken Stimmen auf sich, ab 2007 fast ein Drittel. Bei der Parlamentswahl 2019 kamen sie auf 13,2 Prozent, während die SP 16,8 Prozent erzielte. Das Resultat war ein neues Phänomen: Der Erfolg der Grünen – und auch der Grünliberalen – ging nur leicht auf Kosten der SP. Insgesamt legte das links-grüne Lager um vier Prozentpunkte zu. «Wahlen werden durch die Mobilisierung entschieden», sagt Buchautorin Sarah Bütikofer. Es geht also stärker darum, das eigene Elektorat an die Urne zu bringen, als Wähler:innen anderer Parteien für sich zu gewinnen. 2019 hätten insbesondere die Frauen- und die Klimabewegung eine «Supermobilisierung» im linken Lager bewirkt.
Das über lange Jahre klare Verhältnis beim Wahlanteil bestimmte bis 2019 auch die Rollenverteilung: Die Grünen waren der Juniorpartner. «Eine Rolle, die den Grünen durchaus behagte», meint Werner Seitz. «Die SP sollte sich mit Realpolitik und Konkordanz abmühen, während man selbst freier war und auch produktive Unruhe stiften konnte.» Ganz störungsfrei war das Verhältnis aber nicht. Als die Grünen in den Neunzigern konzeptionell und an der Urne schwächelten, auch weil die Wirtschafts- und die Europapolitik die Agenda bestimmten, holten der damalige SP-Präsident Peter Bodenmann und sein Generalsekretär André Daguet in der «Roten Revue» zum Rundumschlag aus: «Parteipolitisch gibt es links als Machtfaktor nur noch die SP.» Die Grünen würden kein ernsthaftes Gegengewicht bilden.
Die heute reichlich patriarchal anmutende Analyse, mit der Bodenmann alle auf ihre Plätze verwies, hat sich nicht bewahrheitet. «Dank der organisatorischen Ausdifferenzierung konnten SP und Grüne der Linken einen Wahlanteil von heute rund dreissig Prozent sichern. Im internationalen Vergleich ist das ein sehr gutes Ergebnis», sagt Seitz. Was sich im Rückblick zeigt: Viele linke Wähler:innen entscheiden sich abwechselnd für die Grünen und die SP – oder panaschieren auf ihren Listen beide Parteien. 2019 kam die gute Mobilisierung insbesondere den Grünen zugute, die linken Wähler:innen setzten ein ökologisches Zeichen. Im Herbst könnte es andersherum sein: Bei der Zürcher Kantonsratswahl – so etwas wie ein Stimmungstest – legte die SP im März leicht zu, die Grünen verloren erstmals wieder.
Ob bei der Bundesratswahl die Sozialdemokrat:innen oder die Grünen im Vorteil sind, wird sich letztlich am 22. Oktober weisen. «Je nach Ausgang der Wahlen wird sich die Diskussion möglicherweise auch verlagern und vor allem die Übervertretung des rechten Lagers in der Landesregierung thematisieren», sagt Bütikofer.
Rechte in Geiselhaft der SVP
Auch im Festzelt des Arbeiterstrandbads von Tennwil ist man irgendwann bei der Analyse des bürgerlichen Lagers angelangt. Und bei dessen Angreifbarkeit. SP-Kopräsident Cédric Wermuth spricht davon, dass sich die FDP von der SVP in Geiselhaft nehmen lasse. Das könne für die Freisinnigen nicht gut ausgehen. Die Rechte sei im Bundesrat offensichtlich überrepräsentiert, und alle Bemühungen von SP und Grünen müssten darauf abzielen, daran etwas zu ändern. «Ich hoffe, dass wir uns nicht spalten lassen», mahnt er.
Ruhe bewahren, empfiehlt auch Paul Rechsteiner. Man dürfe sich jetzt bloss nicht in die Defensive drängen lassen. «Zwei Prozent mehr, dann können wir die Schweiz verändern», deklamiert der ehemalige St. Galler Ständerat in seiner Rede. Schon kleine Veränderungen bei den Wähler:innenanteilen würden in der Schweiz grosse politische Verschiebungen nach sich ziehen. Unter tosendem Applaus ruft er ins sozialdemokratische Publikum: «Es lebe die Solidarität!» Ob sie auch hält, wenn die Grünen in die Regierung wollen?
Sarah Bütikofer, Werner Seitz (Hrsg.): «Die Grünen in der Schweiz. Entwicklung – Wirken – Perspektiven». Mit Beiträgen von achtzehn Autor:innen. Seismo Verlag. Zürich 2023. 228 Seiten. 38 Franken.
Kommentare
Kommentar von _Kokolorix
Sa., 01.07.2023 - 15:15
Egal wie man rechnet, arithmetisch lässt sich mit den nur gerade 7 Bundesratssitzen nie eine gerechte und belastbare Verteilung erreichen.
Mein Vorschlag wäre, dass die 7 wählerstärksten Parteien je einen Sitz erhalten.
Dazu sollte jede Partei zumindest ein Viererticket mit zwei Frauen und zwei Männern aufstellen. So sollte eigentlich immer jemand wählbares dabei sein.
Damit hätte auch das würdelose Geschacher ein Ende, das alle vier Jahre losgeht und die Politiker von wichtigeren Arbeiten abhält.
Kommentar von cHrUT44
Mi., 05.07.2023 - 15:21
Wie mühsam diese endlose Taktiererei! Die Existenz zweier links-grünen Parteien ist peinlich. Seit 1919 hat die Wahlbeteiligung bei den NR-Wahlen von 80% auf 42 bis 45 % abgenommen. Wie wärs wenn Links u n d Grün - gemeinsam - an die Aufgaben dächten, die zu lösen sind?
Wie wäre es, wenn man
1. an die politische Bildung* dächte,
2. die innerparteiliche Demokratie - als praktisches Feld dieser Bildung - einführte, mit der die 70 % der Bevölkerung in die Lage versetzt würde, zu verstehen, worum es geht, und was ihre Interessen sind vis-a-vis der überall neu etablierten tödlichen Feudalwirtschaft und -politik.
3. Das ist das gleiche wie die Massnahmen einzuleiten, um die zerstörerische Klimaerhitzung noch zu begrenzen.
Bruno Unternährer, Rotkreuz
Kommentar von Andris
Fr., 07.07.2023 - 13:57
Ausserdem ist es realpolitisch völlig unerheblich ob die Linke zwei rote oder je ein roter und grüner Bundesratssitz hat.
Wichtig ist, die Tatsache zu beenden, dass die SVP und die FDP mit vier Sitzen zusammen die Mehrheit im Bundesrat haben, und das obschon ihre gemeinsamen Wähleranteile das gar nicht legitimieren.
Was hingegen realpolitisch sehr bedeutsam ist.