«Es beginnt bei der Bildung»

Die dreijährliche Pisa-Studie gibt jedes Mal zu reden. Die Bildungsverantwortlichen des Landes halten den Atem an: Wie gut ist unser Bildungssystem? Wie schneiden die Schweizer Schüler:innen im internationalen Vergleich ab? Können sie anständig schreiben, lesen, rechnen? Eins vorweg: Auch 2022 hat die Schweiz im OECD-Vergleich doch recht gut abgeschnitten. Grund genug, durchzuatmen? Nicht, wenn man die Chancengleichheit unter die Lupe nimmt. So hält die aktuelle Pisa-Studie denn auch fest: Der Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft ist stärker als je zuvor. Im Fach Mathematik bedeutet dies, dass die Schü­ler:in­nen aus den unteren sozialen Schichten den privilegierten Kindern ganze drei Schuljahre hinterherhinken.

Zu meiner Schulzeit wohnten die Schweizer Kinder aus wohlhabenden Familien nicht nur auf der schöneren Seite der Hauptstrasse, sie hatten auch die besseren Noten und somit die rosigeren Perspektiven. Es stand für Lehrer:innen und Eltern ausser Frage, dass diese Schüler:innen den Übertritt ins Gymnasium schaffen würden. Schon ab der ersten Klasse lernten sie schneller lesen, schreiben und rechnen. Das lag nicht an ihrer höheren Intelligenz, sondern daran, dass sie als Kinder von Eltern mit akademischem Hintergrund zur Welt gekommen waren. In meiner Klasse war da zum Beispiel Anna. Ihr Mami war Hausfrau, und wenn sie nach der Schule nach Hause kam, wartete die Mutter schon mit einem Zvieri am Esstisch und fragte: «Und, was habt ihr heute gelernt?» Danach lehnte sich die Mutter über sie, während sie die Hausaufgaben löste. Wenn Anna nicht weiterwusste, erklärte ihre Mutter ihr die Matheaufgaben. Auch auf Prüfungen bereitete man sich gemeinsam vor. Heute ist Anna Oberärztin.

Wir hingegen gingen nach der Schule die Treppe hinunter in die sogenannte Hausaufgabenhilfe. Dort warteten ehrenamtlich engagierte Rentnerinnen mit einem Glas Sirup und einem Stück Brot auf uns. Ich bin ihnen bis heute dankbar, aber dieses niederschwellige Angebot konnte der Ungleichheit des Bildungssystem kaum entgegenwirken. Wenn ich bei meiner Mathehausaufgabe nicht nachkam, versuchten sie, mir zu helfen, doch nach ein paar wenigen Anweisungen wiesen sie mich darauf hin, dass die Hausaufgabenhilfe keine Nachhilfe sei. Der Raum war meistens voll mit uns migrantischen Kindern, und die Kapazitäten der Helferinnen reichten kaum aus, um jedem von uns die Unterstützung zu geben, die es gebraucht hätte. Das Ziel war es nicht, unsere Leistungen zu verbessern, sondern lediglich einen Rahmen zu schaffen, in dem wir die Hausaufgaben erledigten. Heute sind meine Freundinnen Verkäuferinnen und Pflegerinnen.

Nun könnte man meinen, dass sich seit meiner Primarschulzeit einiges verbessert habe. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bildungsungleichheit in der Schweiz nimmt seit zehn Jahren sogar zu. Das bereitet mir Sorgen. Insbesondere erinnere ich mich dabei an den afghanischen Jungen, dem ich während des Corona-Lockdowns keine Nachhilfe geben konnte, weil seine Familie keinen Laptop besass. Wie wird seine Zukunft aussehen? Hätte er nicht auch die Chance verdient, Oberarzt zu werden?

Die aktuelle Pisa-Studie belegt hingegen einmal mehr, was ich schon wusste: Bereits bei der Bildung wird munter von oben nach unten getreten!

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.

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Kommentare

Kommentar von Igarulo

So., 10.12.2023 - 02:49

Stimmt Migmar Dolma. Grundsätzlich haben Sie recht. Aber die bürgerliche Schweiz will nicht soviel Geld ausgeben, um die sozialen Barrieren im Bildungsbereich zu beseitigen. Und auch den Lehrerinnen fehlt oft die interkulturelle Kompetenz und Empathie zur Förderung der Kinder aus sozial tieferen Schichten. Da könnten die Pädagogischen Hochschulen noch einen Zacken zulegen.