Bildungschancen: Grosser Traum, harte Realität
Rund 8000 Schüler:innen traten dieses Jahr die Gymiprüfungen im Kanton Zürich an. Ines war eine von ihnen. Trotz viel Vorbereitung hat es am Schluss knapp nicht gereicht.
Hätte man der heute sechzehnjährigen Ines vor einigen Jahren gesagt, dass sie einmal die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium schreiben werde, hätte sie das nie geglaubt. «Ich hielt mein Deutsch für zu schlecht. Wenn ich mich mit den Besten in der Klasse verglich, dachte ich, dass ich niemals mit ihnen mithalten könnte», erklärt sie.
Schaut man, wer diese Prüfung schreibt, ist das keine Überraschung: Es sind jedes Jahr vor allem gut situierte Akademiker:innenkinder ohne Migrationsgeschichte. Ines passt nicht in dieses Bild, sie hat einen Migrationshintergrund und stammt aus einer Familie mit geringen finanziellen Ressourcen.
In der Schweiz sei die Chancengerechtigkeit in der Bildung so tief wie noch nie, heisst es in der aktuellen Pisa-Studie. Laut einer Studie der Schweizer Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm bestehen gerade einmal vier Prozent der Kinder aus «bildungsfernen Familien» – in denen der Vater über keinen Bildungsabschluss verfügt – die Prüfung. Zwanzig Prozent reüssieren, wenn ihr Vater eine Berufslehre absolviert hat. Im Gymnasium würde Ines zu den knapp zehn Prozent der Gymnasiast:innen gehören, die zu Hause eine Fremdsprache sprechen.
Der Bildungsforscher Jürg Schoch sagte im Dezember gegenüber der WOZ, dass die Fünfzehnjährigen des untersten Viertels der sozialen Herkunft durchschnittlich auf dem Niveau von Zwölfjährigen des obersten Viertels seien. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer grösser, was eine direkte Auswirkung darauf hat, wer einen Platz am Gymnasium bekommt und wer nicht.
Ein Jahr Vorbereitung
In der Zürcher Gemeinde Schlieren, dem Heimatort von Ines, besucht lediglich jedes zwölfte Kind das Gymnasium. Keine vier Kilometer weiter, in der reichen Nachbargemeinde Uitikon, sieht es ganz anders aus: Rund jedes zweite Kind macht dort die Matura. Dass es die Kinder aus den wohlhabenden Familien Uitikons eher ans Gymnasium schaffen, liegt am Bildungsgrad ihrer Eltern. Kinder von Akademiker:innen bestehen in vier von fünf Fällen die Gymiprüfung. Sie werden tendenziell früh gefördert und eher in Vorbereitungskurse geschickt, die bis zu 6000 Franken kosten.
Wegen knapper finanzieller Ressourcen hatte Ines’ alleinerziehende Mutter diese Möglichkeit nicht. Die Schülerin konnte jedoch «ChagALL» besuchen, ein Programm, das Jugendliche mit Migrationshintergrund aus sozioökonomisch benachteiligten Familien auf ihrem Weg zur Matura unterstützt. Die Abkürzung steht für «Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn». «ChagALL» startete 2008 am Gymnasium Unterstrass in Zürich. Durch kostenfreie fachliche und persönliche Unterstützung bereiten Lehrpersonen – sogenannte «ChagALL»-Trainer:innen – Schüler:innen auf die Aufnahmeprüfungen vor. Das Programm hat Erfolg: Laut Evaluation der Universität Zürich schaffen siebzig Prozent der Teilnehmer:innen auf Anhieb die Aufnahmeprüfung an eine Mittelschule. Das sind deutlich mehr als der kantonale Durchschnitt von fünfzig Prozent, die die Prüfung bestehen.
Kantonale Regelungen
Neben Zürich regeln sechs Kantone die Aufnahme ans Gymnasium über eine Prüfung: Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Schwyz, St. Gallen, Glarus und Graubünden. Dabei werden meist auch Vornoten berücksichtigt. In zwölf Kantonen gibt es keine Prüfungen und die Gymiplätze werden aufgrund der Erfahrungsnoten aus der Volksschule verteilt. In acht Kantonen gibt es ein Mischsystem, bei dem sowohl Noten und/oder eine Prüfung wie auch eine Potenzialeinschätzung der Lehrperson einfliessen. In gewissen Kantonen sind Prüfungen nicht die Regel, können jedoch absolviert werden, wenn die Bedingungen des prüfungsfreien Übertritts nicht erfüllt sind.
Tendenziell gibt es Unterschiede zwischen der Deutsch- und der Westschweiz: In der Romandie werden mehr Eintritte ins Gymnasium und eine möglichst späte und faire Selektion angestrebt. In Genf besuchen fast die Hälfte der Schüler:innen auf Sekundarstufe das Gymnasium. In Deutschschweizer Kantonen setzt man eher auf eine strenge Selektion, Spitzenreiter ist der Kanton Uri: Dort beträgt die Eintrittsquote 12,8 Prozent.
Es war die Kindergartenlehrerin ihres jüngeren Bruders, die Ines und ihre Familie auf das Programm aufmerksam gemacht hatte. Ines wurde aufgenommen und besuchte ab März 2023 jeden Mittwochnachmittag und Samstagvormittag das Gymnasium Unterstrass, wo der Vorbereitungskurs stattfand.
So auch an einem Mittwoch im Februar. Einen Monat vor der Prüfung sitzt Ines allein an einem Platz und arbeitet an einer Mathematikprobeprüfung. Es ist später Nachmittag, kurz vor fünf Uhr, und die Abendsonne färbt den Raum golden. Die Stimmung ist hochkonzentriert, man hört nur das Tippen auf den Taschenrechnern und das schnelle Kritzeln der Stifte. Ines’ Blick ist auf ihr Papier fixiert. Nur einmal hält sie inne, schaut auf und geht nach vorne, um sich für eine Aufgabe Hilfe zu holen. «Durch ‹ChagALL› bin ich selbstbewusster geworden», sagt sie nach der Stunde. «Ich habe gelernt, dass niemand für mich die Fragen stellt. Wenn ich etwas nicht verstehe, muss ich mich selbst melden.» Ines wählt ihre Worte mit Bedacht und gibt überlegte Antworten. Sie wirkt älter als ihre sechzehn Jahre.
Traumstudium Architektur
Im März hat sie nicht nur die Gymiprüfung an der Kantonsschule Enge, sondern auch die Aufnahmeprüfung für die Fachmittelschule in Zürich Wiedikon abgelegt – «zur Sicherheit», wie sie sagt, damit sie einen Plan B habe. Ihr Traum aber sei es, die Matura zu machen, um so eines Tages Architektur studieren zu können. Wie am Ende der Sekundarschule üblich, bewarb sich Ines auch auf Lehrstellen. Bis jetzt habe sie nur Absagen erhalten, was sie verunsichere: «Ich verstehe nicht, weshalb ich nicht einmal eingeladen werde. Das macht mir manchmal schon Angst, und ich beginne, Fehler an mir zu suchen. Ist mein Kopftuch oder mein Name das Problem?»
Gleichzeitig nahm die Vorbereitung auf die Gymiprüfung Druck aus der Lehrstellensuche. Der Fokus auf die Prüfung sei der richtige Weg, fand auch ihre Klassenlehrerin. Dass Ines das intensive Jahr «ChagALL» nebst der Schule gemeistert habe, sei ein Zeichen dafür, dass die Schülerin fleissig und bereit sei, viel für das Gymnasium zu machen, sagt sie. Sie würde ihr den Wunschweg gönnen.
Ein leichter ist es nicht. Ines ist als Tochter tunesischer Eltern in der Schweiz geboren. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie zurück nach Tunesien, wo Ines die ersten drei Primarschuljahre absolvierte. Als der Vater schwer erkrankte, zog die Familie zurück in die Schweiz, wo er nach wenigen Monaten verstarb. Seit da erzieht die Mutter Ines und ihre zwei Geschwister allein. Für die Schülerin bedeutet das eine Mehrfachbelastung: Kinder, die emotional und psychisch einen schweren Rucksack zu tragen haben und sich gleichzeitig an sprachlichen Hürden abmühen, haben im Schweizer Bildungswesen erwiesenermassen nicht genug Zeit, aufzuholen. Dass Ines den Sprung in die höchste Sekundarstufe schaffte und in das «ChagALL»-Programm aufgenommen wurde, hängt mit ihrem überdurchschnittlichen Fleiss und ihrer Motivation zusammen. Kinder wie Ines würden sich durch ebendiese hohe Motivation auszeichnen, sie seien sehr leistungsfähig, sagt die Mitinitiantin von «ChagALL», Dorothea Baumgartner.
Rund zwei Wochen vor der Prüfung steigt der Druck auf Ines. Es sind Sportferien in Schlieren, und sie bearbeitet täglich selbstständig Aufgabenblätter, die sie von «ChagALL» bekommen hat. «Ich denke ununterbrochen an die Gymiprüfung», sagt sie. Sie werde mit jedem Tag nervöser, jede Nacht träume sie von der Prüfung. Trotzdem ist sie zuversichtlich: «Ich bin zufrieden mit dem, was ich bis jetzt geleistet habe. Es fühlt sich jetzt realistischer an, dass ich es ins Gymnasium schaffe.»
Plötzlich leere Samstage
Dass Ines ans Gymnasium möchte, hat mit ihrer Mutter zu tun, die in Tunesien zwei Semester Physik und Chemie studierte. «Sie ist ein Vorbild für mich und sagt mir immer, dass sie stolz auf mich sei, egal wie die Prüfung rauskomme.» Solch emotionale Unterstützung sei zentral für einen Erfolg an der Gymiprüfung, sagen Studien. Besonders Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien fehle es oft an Selbstvertrauen und Motivation.
An einem Mittwoch Anfang März ist die erste Hürde genommen: Vor wenigen Stunden hat Ines die Aufnahmeprüfung für die Fachmittelschule geschrieben, diejenige fürs Gymnasium war zwei Tage zuvor. Sie sei nervös gewesen, aber die Trainerinnen von «ChagALL» hätten sie beruhigt und mit Tipps unterstützt. Etwa mit dem, dass die Schüler:innen am Tag vor der Prüfung nicht lernen und an der Prüfung genug Wasser trinken sollen. Ines wirkt erschöpft, aber gelassen: «Die Prüfungen sind eigentlich beide ganz gut gelaufen, deswegen hoffe ich auf ein positives Ergebnis. Aber ich versuche, meine Erwartungen tief zu halten.»
Sie sei froh, dass die strenge Vorbereitungsphase nun passé sei, aber auch traurig, dass sie sich vom Programm verabschieden müsse. «Als ich letzten Samstag die neuen Teilnehmer:innen kennengelernt habe, bin ich sehr emotional geworden. Vor einem Jahr war ich auch an diesem Punkt, und jetzt habe ich so viel Neues gelernt. Ich werde ‹ChagALL› vermissen», sagt sie mit einem müden Lächeln. Auf die Frage, was sie nun mit der neu gewonnenen Freizeit machen werde, gibt sich die Schülerin zum ersten Mal ein wenig ratlos. Sie könne sich gar nicht mehr daran erinnern, was sie früher an Samstagen gemacht habe.
Dann folgt das lange und zähe Warten: Zwei Wochen nach Ablegen der Prüfung liegen die Resultate in Ines’ Briefkasten. Sie hat nicht bestanden. Die Enttäuschung ist umso bitterer, als es mit ihrem jetzigen Prüfungsresultat 2023 wahrscheinlich noch gereicht hätte. Zwar sind die Prüfungen dieses Jahr milder bewertet worden, doch der Mindestdurchschnitt aus Prüfungsnote und Vornote wurde erhöht. Ines bleibt nun die Hoffnung auf ein positives Prüfungsergebnis für die Fachmittelschule. Sie erwartet es am Erscheinungstag dieser WOZ.
Kommentare
Kommentar von Igarulo
Do., 21.03.2024 - 11:16
Am Integrations-Brücken-Angebot in Zug bestand die Abmachung mit den Gymnasien darin, dass es für die Lehrerinnen des Brückenangebots möglich sein soll, begabte Schüler mit dem nötigen Potenzial prüfungsfrei ans Gymnasium zu schicken, auch wenn ihre Deutschkenntnisse noch nicht perfekt waren, weil es eben nicht möglich ist, in zwei bis drei Jahren die Deutschkenntnisse aufzuholen, die eine Jugendliche besitzt, die Deutsch als Erstsprache erlernte. Es kam also darauf, die intellektuellen Kapazitäten abzuschätzen unabhängig der sprachlichen Fähigkeiten in Deutsch.
So bekamen die Schüler eine Chance, sich im ersten Jahr des Gymnasiums zu bewähren und ein zusätzliches Jahr ihr Deutsch zu verbessern. Das funktionierte oft aber nicht immer.
Immerhin war die Bereitschaft seitens der Gymnasien vorhanden, sich dem Problem praktischbezogen zu nähern, was anzuerkennen ist.
Kommentar von mahnümm
Mo., 25.03.2024 - 10:28
Das habe ich in Fribourg zwar ähnlich erlebt, doch habe ich das Gefühl, dass Lehrpersonen oft noch die Kapazitäten und das Potential vieler Schüler aus Migrationsfamilien unterschätzten, obwohl es klar ersichtlich war, dass sie im Gymnasium besser aufgehoben wären, als in einer Lehre zu vergammeln...
Ich sehe auch an der Uni, dass eine Aufbruch der sterilen Akademiker-"Szene" mal dringend nötig wär, um eine Perspektivenwechsel zu erzwingen. Da wären vermehrt Studenten aus Migrationsfamilien, Bachelor bis Postdoc, auf längere Zeit eine Bereicherung für die Hochschullandschaft der Schweiz.