Deutsch lernen müssen dürfen

Ich greife über die Sprache auf meine Welt zu. Ich regle mein ganzes Leben über die Sprache, redend oder schreibend. Wenn mich etwas stresst, räume ich erst mal den Tisch auf, dann notiere ich, was mich stresst, und schon ist es fast wieder gut. Und wenn ich etwas erzähle, was ich erlebte, wird es real.

Im Bergell, wo ich wohne, sprechen die Einheimischen Bargaiot. Dass ich es nicht kann – nur italienisch radebrechen –, behindert mich. Klar, alle können hier auch Deutsch, aber ich will die Sprüche verstehen, die die Bergellerin an der Kasse macht, und wenn fünf Leute zusammenstehen, will ich mich, ohne Umstände zu machen, dazugesellen können.

So ist es für mich bei der Arbeit fürs Solinetz eigentlich keine Frage, dass Sprachkurse etwas Gutes sind. Wie oft schon habe ich in Newslettern, Stiftungsanträgen oder Interviews davon gesprochen, dass es ein grosses Bedürfnis von Geflüchteten sei, Deutsch zu lernen.

Dann denke ich an Tekle und Abdul, die beide viel Zeit in Deutschkursen verbrachten. Sie erreichten das vom Migrationsamt verlangte A2-Niveau – nur um dann, nach bewilligtem Härtefallgesuch, im Restaurant einen Job als Abwascher annehmen zu dürfen.

Und kürzlich traf ich Tara. Seit fünf Jahren lebt Tara in einem Container für Asylsuchende, ihr Asylgesuch wurde abgelehnt, Rückkehr unmöglich. Als Analphabetin in die Schweiz gekommen, meistert sie ihren Alltag dennoch perfekt alleine. Sie hat alles, auf das sie einen Einfluss hat, im Griff. Und dreimal in der Woche sass sie fleissig, ja auch lustvoll in einem Deutschkurs, obwohl die Unsicherheit, die alle ihre Lebensbereiche bestimmt, und die fehlende schulische Vorbildung ihr das Lernen schwer machten. Dann kam der grosse Moment: der Sprachtest. Resultat: A1 – sie ist also noch immer Anfängerin im Deutsch. Keine Worte der Anerkennung für ihre jahrelange Mühe. Das Testresultat war ein Schlag.

Sie hat jetzt keine Lust mehr. Und ich fühle mit ihr.

Ich habe auch keine Lust mehr, mantraartig zu wiederholen, wie wichtig Sprachkenntnisse seien. Zu sehr sehe ich, wie die Migrationsbehörden fehlende Sprachkenntnisse nutzen, um Zugang zu Rechten zu verwehren; denn ohne besseres Deutsch hat Tara wenig Chancen auf eine Aufenthaltsbewilligung. Ich habe keine Lust mehr, das Deutschlernen zu preisen, weil ich sehe, dass die Teilhabehindernisse oft anderer Natur sind. Eines der grössten, ungedeckten Bedürfnisse von Deutschlernenden beim Solinetz: das gelernte Deutsch anwenden können, anwenden dürfen!

Aber diese Unlust darf ich nicht lange mit mir herumtragen. Schon nächste Woche treffe ich Freiwillige, die vielleicht mit Deutschunterrichten beginnen möchten. Und ich werde ihnen sagen, dass es unglaublich wertvoll sei, sich als Deutschunterrichtende zu engagieren. Und ich meine das auch so, von ganzem Herzen.

Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.