Rosarot, echt jetzt?
Ab und zu trage ich einen Pullover ganz aus Glitzerfäden, ich mag Kitsch, und wenn ich beim Filmschauen genau dann weine, wenn das so vorgesehen ist, schäme ich mich nicht dafür. Ich will meine Rührseligkeit nicht missen. Aber mir steigen auch Tränen in die Augen, wenn ich einen Polizisten sehe, der Kindern das Strassenüberqueren beibringt. Sie sehen, Rührseligkeit kann peinlich sein. Und noch schlimmer: Sie kann fehl am Platz sein, naiv, ignorant. Die gleiche Polizei traumatisiert jede Woche Kinder. Sie fährt ständig bei der Notunterkunft Hinteregg vor, verhaftet Eltern vor den Augen ihrer Kinder, um dann alle zusammen auszuschaffen.
Bei meiner Arbeit fürs Solinetz traue ich mich kaum, meine Rührseligkeit auszuleben – und Kitsch ist natürlich verboten. Schon mit unserem rosaroten Logo, das ich weiterhin sehr mag, sind wir haarscharf am Kitsch vorbeigeschrammt; es stellt zum Glück nicht eine dunkle und eine helle Hand dar, die sich halten – sondern es sind drei Hände in Gelb, Blau und Rosarot, die ein flimmerndes Muster bilden. Uff!
Kitsch im Themenbereich Flucht und Asyl kann unerträglich sein, wenn er zum Beispiel koloniale Muster aufnimmt (die weisse Hand hilft der schwarzen), und er kann sich den Vorwurf einhandeln, die Schwere der Lebensrealitäten von Geflüchteten zu beschönigen oder gar zu übergehen (Weihnachtsgeschenke für alle, so lindern wir die Not!). Kitsch ist dann Gewissensberuhigung, Wirklichkeitsflucht.
Viele Geflüchtete können nicht schwimmen und wünschen es zu lernen. Also suchten und fanden wir letzten Sommer siebzig Freiwillige, die je einer Person in der Badi das Schwimmen beibrachten. Ein Foto von so einem Schwimmtandem – zwei Männer sitzen Schulter an Schulter im Pool und strahlen in die Kamera – erwärmte mein Herz sehr. Auch die Atmosphäre in unseren Deutschkursen ist geprägt von Wohlwollen, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit. Die Lerngruppen setzen sich zusammen aus Menschen, deren Herkunftsländer manchmal verfeindet sind; einige sind homophob, andere homosexuell; sie gehören unterschiedlichen Klassen und Religionen an. Fast alle leben in Kollektivunterkünften, ihnen fehlt es an so vielem! Ich aber würde über die Deutschkurse gerne schreiben: «Die Stimmung ist so fröhlich!»
Schaue ich zu wenig genau hin? Behaupte ich Konfliktlosigkeit, wo es von Spannungsfeldern nur so wimmelt? Erfreue ich mich naiv an einer oberflächlichen Harmonie? Aber es muss ja nicht so sein, dass immer, wenn Menschen unterschiedlicher Prägung und Privilegien zusammenkommen, automatisch Missverständnisse und Konflikte entstehen. Es gibt sie, die Momente gelebter Solidarität!
Manchmal scheint mir, dass ich nichtstrategische Aussagen verlernt habe, so sehr ist der Diskursraum vorbelastet: «Asylsuchende machen Probleme». Probleme, Probleme, Probleme. Immer bin ich dran, Gegengewicht zu geben. Wenn jemand mich fragt, was ich arbeite, dann höre ich als Reaktion auf meine Auskunft oft: «Oh, das ist sicher schwierig!» Und dann weiss ich jeweils nicht, ob ich jetzt vielleicht eine kitschige Geschichte erzählen sollte. Wenn ichs tue, ist mir unwohl, wenn nicht, auch.
Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.