Monsieur Bardella, ich habe eine Frage

Es ist schon wieder passiert. Schon wieder hat ein Mann in Frankreich eine Frau ermordet. Die genauen Hintergründe sind unklar, fest steht, dass am Samstag eine Studentin tot in einem Waldstück westlich von Paris aufgefunden wurde. Philippine wurde 19 Jahre alt. Der Verdächtige befindet sich seit Dienstag in Untersuchungshaft, nachdem die Gerichtsmedizin genetische Spuren von ihm am Leichnam fand. Der 22-Jährige ist bereits wegen Vergewaltigung vorbestraft.

Frankreichs Rechte ist in Aufruhr. Nicht aus Angst um Frauen, aus Wut auf die männliche Gewalt, die schon wieder eine junge Frau aus dem gerade erst beginnenden Leben gerissen hat. Auch nicht wegen der Kontinuität dieses Femizids an Philippine oder wegen der Tortur, die Gisèle Pelicot aus Avignon erlebt hat, die zehn Jahre lang von ihrem eigenen Ehemann Dominique Pelicot unter Drogen gesetzt und von Dutzenden Männern missbraucht wurde. Nein, Frankreich ist in Aufruhr, weil der Verdächtige Marokkaner ist.

«Unsere Politiker lassen die Franzosen neben menschlichen Bomben leben», wütete etwa Jordan Bardella, Chef der Rechtsaussenpartei Rassemblement National, auf X. Es sei Zeit, dass die Regierung handle, «denn unsere Landsleute sind wütend». Und der frisch ernannte rechtskonservative Innenminister Bruno Retailleau spurt. Seine Stellungnahme liest sich, als sei sie im gemeinsamen Brainstorming mit Bardella entstanden. «Es liegt an uns als öffentliche Entscheidungsträger, uns zu weigern, das als unvermeidlich hinzunehmen, und unser rechtliches Instrumentarium weiterzuentwickeln, um die Franzosen zu schützen», erklärte er am Mittwoch. «Wenn wir die Regeln ändern müssen, dann sollten wir sie ändern.»

Die «Regeln», von denen er redet, sind natürlich Migrationsgesetze. Das gleiche Land, das gerade erst anfängt, den Schock des Falls aus Avignon zu verarbeiten, meint nun, die Lösung in schärferen Einwanderungsregeln gefunden zu haben. Dominique Pelicot ist Franzose, die allermeisten der mutmasslichen Täter, die er zur Vergewaltigung seiner Frau Gisèle einlud, ebenfalls. Gisèle Pelicot kannte einen von ihnen, traf ihn gelegentlich beim Bäcker.

Welches Einwanderungsgesetz schützt uns vor den Tätern in unseren Nachbarschaften, in unseren Wohnzimmern, in unseren Betten, Monsieur Bardella? Oder sind die Landsleute da nicht ganz so wütend, die Taten nicht ganz so inakzeptabel? Braucht es da plötzlich keine tiefgreifenden Veränderungen im System, ist das dann doch irgendwie Schicksal? Ich frage für die Hälfte Frankreichs. Ich frage für Gisèle.

Zwei Monate lang hat Özge İnan als Autorin unserer Freitagskolumne auf ein Ereignis der laufenden Woche geblickt. Heute tut sie dies zum letzten Mal. Wir bedanken uns bei Özge für ihre Arbeit und freuen uns darauf, bald schon Neues von ihr zu lesen!