Wut gegen das Patriarchat und Erdoğan
«Wenn du nachts Angst vor der Dunkelheit hast, werden wir die ganze Stadt anzünden!» – Mit Slogans wie diesem machen sich in diesen Tagen Demonstrant:innen in der Türkei gegenseitig Mut – und verleihen ihrer Wut Ausdruck. In Istanbul, Ankara, Izmir und anderen türkischen Städten gingen in der vergangenen Woche jeweils Hunderte Menschen auf die Strasse, um gegen Femizide und Gewalt an Frauen zu protestieren.
Ausgelöst wurden die Proteste durch die brutalen Morde an zwei jungen Frauen, die sich vor rund zehn Tagen in Istanbul ereignet hatten. Es waren nicht die ersten in diesem Jahr: Im September etwa erschütterte der Fall der achtjährigen Narin Güran das Land, deren Leiche mehrere Wochen nach ihrem Verschwinden in einem Plastiksack in der Nähe ihres Wohnorts gefunden wurde. Laut der türkischen Plattform «Kadın cinayetlerini durduracağız», auf Deutsch «Wir werden Femizide stoppen», wurden im laufenden Jahr bereits 299 Frauen ermordet.
Lin Kaya* war am Samstag in Istanbul auf der Strasse. Die 34-Jährige ist Künstlerin, Aktivistin und alleinerziehende Mutter. Sie sagt, anders als an Demonstrationen wie denen zum 8. März richte sich die Wut im Moment nicht nur gegen das Patriarchat. «Die Leute sind wütend auf die Regierung, auf Erdoğan», sagt Kaya. Slogans wie «Mörder AKP, Mörder Erdoğan» höre und lese man auf allen Demonstrationen.
Aktivist:innen kritisieren, dass Gewalt an Frauen zu wenig oder gar nicht verfolgt werde – und machen dafür auch die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verantwortlich. Aus der Istanbul-Konvention, deren Unterzeichnerstaaten sich dazu verpflichten, Frauen und Mädchen vor verschiedenen Formen der Gewalt zu schützen, ist die Türkei auf Beschluss Erdoğans 2021 ausgetreten. Gleichzeitig würden geltende Gesetze wie das Gesetz Nummer 6284, das Gewalt gegen Frauen und sexuelle Übergriffe unter Strafe stellt, nicht richtig angewandt, erklärt Lin Kaya.
«Das alles hat System», sagt die Aktivistin. «Und wenn nicht einmal die geltenden Gesetze angewandt werden, woran sollen wir uns dann festhalten?»
Auch wenn sie vom Staat nichts mehr erwarte, gebe es ihr immerhin ein gutes Gefühl, sich mit anderen zusammenzuschliessen, so Kaya. «Ich kriege immer Gänsehaut an den Demonstrationen.» Sie kann sich vorstellen, dass aus den aktuellen Protesten etwas Grösseres erwächst. Und glaubt, die Menschen in der Türkei seien an einem Punkt, an dem sie wirtschaftlich und rechtlich nichts mehr zu verlieren hätten. «Da könnte schon bald etwas explodieren – im positiven Sinn.»
* Name geändert.