Nahost: Mitten in der Eskalation
Die Eskalationsspirale in Nahost dreht schneller und schneller: Am Wochenende kam es im Grenzgebiet zwischen Israel und Libanon zum heftigsten gegenseitigen Beschuss seit einem Jahr. Sowohl die Hisbollah als auch Israel scheinen zum aktuellen Zeitpunkt jegliches Interesse an Verhandlungen verloren zu haben.
Israelische Angriffe hatten in den letzten Wochen fast die gesamte Hisbollah-Führung getötet und wichtige Kommunikationswege zerstört. Doch die Miliz erholt sich von diesen heftigen Verlusten. Bei der Drohne, die am Sonntag die hochmoderne israelische Luftabwehr überwand und vier israelische Soldaten tötete, soll es sich laut der «Times of Israel» um einen bis zu diesem Zeitpunkt noch nie eingesetzten Drohnentyp handeln. Alleine am jüdischen Feiertag Jom Kippur am Samstag feuerte die Hisbollah rund 300 Raketen auf israelisches Gebiet.
Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte am Montag, sein Land werde die Hisbollah weiter «in allen Teilen des Libanon gnadenlos angreifen, auch in Beirut». Kurz darauf bombardierte Israel erstmals ein Haus in dem mehrheitlich christlichen Dorf Aitou weit im Norden des Landes und forderte erneut Bewohner von 25 Gemeinden im Süden auf, ihre Häuser in Richtung Norden zu verlassen. Seit Wochen bombardiert die israelische Armee Gebiete im gesamten Libanon. Zusätzlich eskaliert die Situation durch zwei israelische Angriffe auf Uno-Blauhelmsoldaten der Unifil-Mission im Südlibanon. Panzer hatten das Tor einer Basis der Friedenstruppen niedergewalzt. In einem anderen Fall wurde ein Wachturm beschossen. Uno-Generalsekretär António Guterres spricht von einem Völkerrechtsverstoss.
Seit vergangener Woche rücken israelische Soldaten auch wieder im Norden des Gazastreifens vor. Am frühen Montagmorgen traf ein Luftangriff ein Zeltlager vertriebener Palästinenser:innen in einem Hof des Al-Aksa-Krankenhauses in Deir al Balah im Zentrum des Gazastreifens. Vier Menschen wurden nach Angaben der Klinik getötet, Dutzende erlitten schwere Verbrennungen, als sich ein Feuer in dem Zeltlager ausbreitete. Das Spital behandelte nach der Bombardierung einer ehemaligen Schule mit mehr als zwanzig Toten am Vorabend bereits zahlreiche Verletzte. Darunter sind laut der Nachrichtenagentur AP zahlreiche Kinder. Die israelische Armee sprach von Angriffen auf Verstecke militanter Palästinenser:innen, ohne dafür Beweise vorzulegen.
Diese neue Offensive im Norden von Gaza sorgt auch innerhalb der israelischen Armee für Unmut. Sie dient laut einem Bericht der Zeitung «Haaretz», der sich auf Armeekommandeure im Gazastreifen beruft, vor allem der Vertreibung der Zivilbevölkerung. Namentlich nicht genannte hochrangige Mitglieder des Sicherheitsapparats werfen laut dem Bericht zudem der Regierung vor, die Befreiung der rund hundert noch in Gaza festgehaltenen Geiseln aufgegeben zu haben.
Inmitten der steigenden Spannungen sieht offenbar auch der Iran die Region vor einer weiteren Eskalation und gab am Montag bekannt, indirekte Gespräche mit den USA auszusetzen. «Wir sehen momentan keinen Rahmen für diese Gespräche», sagte der iranische Aussenminister Abbas Araghtsch. Der Iran erwartet aktuell einen Gegenschlag Israels nach seiner Attacke mit 181 Raketen Anfang Oktober. Fast schon ein Hoffnungsschimmer ist vor diesem Hintergrund der Eskalation an allen Fronten die Mitteilung Netanjahus an US-Präsident Joe Biden am Montag: Ein Gegenschlag werde sich weder gegen das iranische Atomprogramm, noch gegen dessen Ölindustrie richten.
Der Ausbruch eines offenen Kriegs zwischen dem Iran und Israel könnte so vorerst ausbleiben, eine Ende der Gewalt rückt dennoch in immer weitere Ferne.