Fremdplatzierungen: Aufarbeitung, jetzt!

 

Das eine oder andere hat sich getan in den letzten Jahren: 2010 entschuldigte sich die damalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf für das Leid, das den administrativ versorgten Personen angetan worden war, drei Jahre später folgte die Entschuldigung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei allen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Es gibt eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung, Ausstellungen und Publikationen.

Doch was braucht es, damit die gesellschaftspolitische Aufarbeitung der unter Zwang umgesetzten «Fürsorgepraxis», die in der Schweiz über Jahrzehnte praktiziert wurde, endlich richtig ins Rollen kommt? Dieser Frage ging am Mittwochabend eine Veranstaltung im Landesmuseum Zürich nach.

Auf dem Podium, das von der Historikerin Loretta Seglias umsichtig moderiert wurde, sassen zwei Betroffene sowie zwei Journalisten: Die Jenische Uschi Waser wurde als Kind vom Pro-Juventute-«Hilfsprojekt» «Kinder der Landstrasse» ihrer Mutter weggenommen und verbrachte ihre Kindheit und Jugendzeit in über einem Dutzend Heimen. Heinz Kräuchi wurde von der Berner Behörde seiner Mutter entrissen, er wuchs im Knabenheim «Auf der Grube» bei Köniz auf. Beide erlebten eine Schweizer Kindheit voller Demütigungen, Gewalt und Missbrauch.

Mit Dominique Strebel und Otto Hostettler waren der Chefredaktor sowie ein Reporter des «Beobachters» anwesend, derjenigen Zeitschrift, die 1972 mit einer grossen Reportage über «Kinder der Landstrasse» die offizielle Schweiz zum Handeln zwang. Doch dieses Handeln blieb eine Ausnahme, das wurde im Laufe des Podiums schnell klar: Obwohl Betroffene seit Jahrzehnten mit ihren Geschichten in der Öffentlichkeit präsent sind, man also über die Missstände bestens Bescheid wusste, passierte auf offizieller Seite lange nichts. Uschi Waser erzählt ihre Geschichte seit Ende der achtziger Jahre immer wieder, ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen. Und obwohl das Knabenheim «Auf der Grube» ab 1990 nicht mehr subventioniert wurde – wegen zu wenig qualifiziertem Personal – und 2002 ein ehemaliger Zögling schwere Vorwürfe erhob, wurde das Heim erst zehn Jahre später geschlossen.

Wie demütigend und erschöpfend das für die Betroffenen ist, wurde auf dem Podium schnell klar. Hinzu kommt: Sie werden älter und können nicht mehr jahrzehntelang für Gerechtigkeit kämpfen. Und wie sieht es mit den Nachgeborenen aus, die die Traumata ihrer Eltern weitertragen? Wo hat ihre Aufarbeitung ihren Platz? Diese Frage wurde vom Publikum, in dem weitere Betroffene sowie Nachkommen von Betroffenen sassen, aufgeworfen und rege diskutiert. Sie sei überzeugt, es brauche eine Gleichzeitigkeit der Aufarbeitung, brachte es eine Frau auf den Punkt, deren Familie über mehrere Generationen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen war. Doch dafür wird die Zeit immer knapper.

Damit eine Aufarbeitung unwiderruflich ins Rollen kommt, müssten Politik und Gesellschaft bereit dafür sein, brachte Kräuchi das Problem auf den Punkt. Ob die Politik endlich dazu bereit ist, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Zurzeit ist eine Anfrage an den Bundesrat offen, die fordert, die Kindswegnahme der Jenischen als «kulturellen Genozid» anzuerkennen.