Das Jenischen-Gutachten: Gravierend und einmalig
Der Bundesrat anerkennt das Verbrechen gegen die Jenischen. Betroffene kritisieren jedoch dessen Verweis auf eine alte Entschuldigung.

Die Verfolgung von Jenischen in der Schweiz ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu diesem Schluss kommt ein Rechtsgutachten, das das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) letztes Jahr in Auftrag gegeben hat. Der Befund ist gravierend – und einmalig in der Schweizer Geschichte. Sie sei sehr glücklich über das Verdikt, sagt die Autorin Isabella Huser, die jenischer Herkunft ist. «Es gibt jetzt eine Anerkennung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, oder mit Hannah Arendt gesprochen: gegen die Menschheit.» Das Gutachten anerkenne auch, was bisher immer unter den Tisch gekehrt worden sei: «Es geht um eine systematische, rassistisch motivierte Verfolgung der Jenischen mit dem Ziel, sie als Volksgruppe auszulöschen.»
Keine einzige Anklage
Von 1926 bis 1973 entriss das «Hilfswerk» Kinder der Landstrasse über 600 jenische Kinder ihren Familien unter dem Vorwand, sie vor einem Leben mit «Vaganten, Trinkern und Dirnen» zu retten. Es sperrte Schwangere ein, vollzog Zwangssterilisationen sowie Zwangsinternierungen. Auch kirchliche Hilfswerke und Behörden waren tätig, es wird von gegen 2000 Fremdplatzierungen ausgegangen. Bis heute hat nie eine juristische Aufarbeitung stattgefunden, verurteilt oder angeklagt wurde keine einzige Person.
Das Gutachten wurde letztes Jahr bei Völker- und Staatsrechtsprofessor Oliver Diggelmann in Auftrag gegeben. Dies, nachdem 2021 wie auch 2024 Betroffene in einem Schreiben um Anerkennung eines Genozids beziehungsweise eines «kulturellen Genozids» ersucht hatten – Huser gehört zu den Mitunterzeichnenden eines dieser Schreiben (siehe WOZ Nr. 45/24). Seit September lag das Gutachten dem Bund vor, die Betroffenen erhielten es erst vergangene Woche, einen Tag bevor es publik wurde.
Das über hundertseitige Gutachten anerkennt zwar, dass es zu genozidären Handlungen kam, bestätigt jedoch nicht den Tatbestand des Genozids. Ein Schluss, den die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus, die sich schon vor Jahrzehnten mit Kindeswegnahmen der Pro Juventute beschäftigt hat, nicht nachvollziehen kann (vgl. «Die Assimilierung war das Mittel»). Auch kritisiert sie die fehlende Auseinandersetzung des Bundes mit den – auch juristischen – Konsequenzen, die er aus diesem Verdikt ziehen sollte. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider versprach lediglich eine Aufarbeitung unter Einbezug der Betroffenen. Was daraus folgen soll, bleibt unklar.
Sandra Gerzner, Mitglied der Union der Vereine und Vertreter der Schweizer Nomaden (UVVSN), die das Schreiben von 2021 an den Bund mitunterzeichnet hat, betont denn auch, jetzt werde vor allem interessant, «wie die offizielle Schweiz als Land der Menschenrechte und der Uno reagieren wird». Zum Gutachten möchte sie sich noch nicht äussern, aber sie sagt: «Die Frage, die wir gestellt haben, ist beantwortet worden.»
Keine Gleichsetzung
Mehrere Betroffene kritisieren, dass der Bundesrat am Donnerstag die Entschuldigung bekräftigte, die 2013 von Simonetta Sommaruga ausgesprochen wurde. Diese bezog sich auf Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – die Jenischen sollten sich offenbar mitgemeint fühlen. «Der Bundesrat anerkennt zwar das Verdikt des Gutachtens», sagt Isabella Huser dazu, nicht aber dessen Befund der «gezielten Verfolgung einer bestimmten Volksgruppe».
Ihr persönlich sei eine Entschuldigung nicht wichtig. Aber mit dem Rückgriff auf eine Entschuldigung, die sich an ehemalige Verdingkinder und Opfer von allgemeinen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen richte, zeige der Bundesrat, «dass er die rassistische Dimension der gezielten Verfolgung bewusst ausblendet, die das Gutachten ja bestätigt», so Huser.
Der Verweis auf die Entschuldigung ist aus einem weiteren Grund fragwürdig: Damals entschuldigte sich Sommaruga nur für das Wegschauen, nicht für die Mittäterschaft des Staates. Wie das Gutachten aufzeigt, ist dessen bedeutende Rolle bei der Verfolgung der Jenischen jedoch nicht wegzudenken.