Abramović in Zürich: Augen auf und durch
Erstaunlich komplexe Empfindungen und Wahrnehmungen, wenn man sich bekleidet zwischen zwei splitternackten, nah beieinanderstehenden, fremden Menschen durchschlängeln muss. Berührungen sind unvermeidlich. Dass man Angst hat, den beiden auf die Zehen zu treten, ist da noch die kleinste Sorge. Wer durch ist, fühlt sich tatsächlich ein bisschen verwandelt, was natürlich exakt im Sinn der Künstlerin ist. Oder wie Marina Abramović an der Medienkonferenz zur Eröffnung der neuen grossen Retrospektive am Kunsthaus Zürich sagt: Es geht hier um Emotionen, nicht um den Intellekt.
Sie findet es falsch, dass Museen heute ihren Besucher:innen einen zweiten Ausstellungseingang anbieten müssen, wo man den Nackten ausweichen kann; Stichwort: Accessibility für alle. Dazu meint Abramović trocken: Wenn es diese und andere juristische Bedenken schon bei den Uraufführungen ihrer legendären Performances in den siebziger Jahren gegeben hätte, dann hätte vermutlich keine einzige von ihnen stattfinden können. Ging es doch nicht selten um unkontrollierbare, potenziell sogar lebensbedrohliche Situationen; etwa als die heute 77-Jährige sich hinter einen Tisch mit 72 Objekten setzte – darunter eine Axt, eine Pistole, Farbe, Watte, Alkohol und eine Rose – und das Publikum aufforderte, die Objekte «je nach Wunsch» an ihr zu «verwenden».
1977 stellte sich die weltberühmte serbische Performancekünstlerin auch noch selber mit ihrem damaligen Partner Ulay nackt ins Portal, durch das alle hindurchmussten, die hineinwollten. Die beiden standen da stundenlang, von Türöffnung bis Ausstellungsschluss. Heute müssen die Performer:innen nach einer gewissen Zeit abgelöst werden. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich weder bewegen noch anderweitig äussern dürfen und sich dabei ununterbrochen gegenseitig in die Augen starren müssen, während sich Leute zwischen ihnen hindurchzwängen, auch für uns relativ Unbeteiligte eine beruhigende Aussicht.
Etwas schade dagegen: Die Ausstellung in Zürich gibt zwar einen breiten und engagierten Überblick zu Abramovićs Schaffen aus mittlerweile über fünf Dekaden. Aber das intensive physische Eintauchen vom Anfang verflüchtigt sich beim Gang durch die Retrospektive: Man mutiert wieder zur gewöhnlichen Betrachterin mit Sicherheitsabstand.
Auch die Künstlerin selber wird nach der Eröffnung und einem Künstlerinnengespräch wieder aus Zürich abreisen. Dabei hatte Abramović bei ihrem Auftritt innert Kürze alle charmiert: mit ihrem Witz, ihrer Nahbarkeit und einem erfrischenden Mangel an Starallüren. Sie selber schaue ungern in die Vergangenheit und auf ihre alten Sachen zurück. Diese Ausstellung sei deshalb nicht für sie, sondern allein für das Publikum gedacht.
Die Retrospektive von Marina Abramović ist ab morgen Freitag bis am 16. Februar 2025 im Kunsthaus Zürich zu sehen; es gibt ein reichhaltiges Begleitprogramm: www.kunsthaus.ch.