Irgendwann mussten sich der spanische König und der Ministerpräsident aus Paiporta zurückziehen – also jenem Ort im Süden Valencias, der mit am stärksten von den Überschwemmungen betroffen ist. Die Bewohner:innen des Arbeiterinnenquartiers der spanischen Grossstadt schmissen gestern Sonntag Schlamm auf Felipe VI. und Pedro Sánchez, griffen sie mit Stöcken an und vertrieben sie schliesslich aus ihrer Gemeinde. «Mörder», skandierte die Menge, empört darüber, dass Hilfskräfte ihre Ressourcen für den Besuch staatlicher Obrigkeit einsetzten statt für die würdevolle Bergung ihrer Angehörigen. Es sind verständliche Reaktionen: zu gross die Katastrophe, zu kurz die Zeit, die seither vergangen ist. Und ja, zu dilettantisch das Verhalten staatlicher Verantwortungsträger:innen.
Auch sechs Tage nach der Flutkatastrophe an Spaniens Ostküste ist das Ausmass der Zerstörung noch immer unklar. Bis Redaktionsschluss wurden 215 Todesopfer gezählt, und nach wie vor werden Dutzende, wenn nicht Hunderte Brüder, Mütter, Onkel, Töchter und Grosseltern vermisst. Noch immer suchen Menschen mit Pickel und Schaufeln nach ihren Angehörigen. In überfluteten Tiefgaragen vermuten Augenzeug:innen Massengräber. Mittlerweile unterstützen über hundert Forensiker:innen die lokalen Behörden bei der Identifizierung.
Bei den Starkregenfällen am vergangenen Dienstag fiel an einzelnen Orten innert weniger Stunden so viel Wasser wie sonst in einem Jahr. Nicht auszumalen, was ohne die Staumauer Forata, fünfzig Kilometer westlich von Valencia, passiert wäre, die an diesem Tag 37 Millionen Liter Wasser zurückhielt; eine Menge, die 247 000 Badewannen entspricht.
Die Wassermassen preschten dennoch Richtung Küste. Sie rissen Autos, Lastwagen und Brücken mit sich, entwurzelten Bäume, fluteten Friedhöfe, Tunnel, Garagen, U-Bahn-Stationen, Werkstätten, Lagerhallen, Produktionsanlagen und Wohnungen. Es ist eine der grössten Umweltkatastrophen Europas der vergangenen Jahrzehnte. Zahlreiche Häuser drohen einzustürzen. Ärzt:innen warnen, dass der Kollaps des Abwassersystems sowie die unzähligen Kubikmeter stehenden Wassers zum Ausbruch von Infektionskrankheiten führen könnten.
Trotz des enormen Ausmasses der Verwüstung forderte die Regionalregierung zunächst keine Unterstützung aus Madrid. Von dort wiederum hiess es lapidar: Valencia müsse offiziell um Hilfe bitten. Überhaupt ist das Krisenmanagement der Behörden bisher eine Mischung aus Unbeholfenheit und Arroganz. Dabei hätte die Katastrophe aufgrund der vorhandenen Informationen gedämpft und viele Menschenleben hätten gerettet werden können. Denn bereits um 10 Uhr meldete der nationale Wetterdienst, dass sich in und um Valencia etwas Grosses zusammenbraue. «Die Gefahr ist extrem», heisst es in der Mitteilung. Vier Stunden später aktivierte die Regionalregierung ihren Notfallplan für Wetterphänomene. Doch erst kurz nach 20 Uhr ging die Warnung an die Bevölkerung – zu einem Zeitpunkt, als ganze Quartiere bereits unter Wasser standen und Menschen ertrunken waren.
Mittlerweile hat die Regionalregierung Hilfe angefordert. Zu den Tausenden von Einsatzkräften aus dem ganzen Land sollen in diesen Tagen noch einmal 5000 Soldat:innen und 5000 Polizist:innen hinzukommen. Ministerpräsident Sánchez spricht vom grössten Militäreinsatz Spaniens in Friedenszeiten. Ob die Uniformierten nur zur Katastrophenbekämpfung nach Valencia geschickt werden, wird sich zeigen. Denn der Schock der ersten Stunden hat sich längst in einen Überlebenskampf verwandelt. Zwar ist die Solidarität innerhalb der Bevölkerung gross, doch das Misstrauen und die Wut auf die Behörden sind es ebenfalls. Und sie wachsen mit jedem Tag, an dem weitere Leichen geborgen werden. Das wahre Ausmass der Zerstörung dürfte sich erst zeigen, wenn sämtliche Garagen und Tunnel von Autos, Schlamm, Schutt und Geäst befreit sind. Was feststeht: Die Zahl der Opfer wird weiter steigen.