Niemals vergessen

In der Regel beginnen Texte über rechten Terror meist noch immer mit der «krassesten» Überschrift oder den Namen von Tätern. Ich könnte diesen Text zum Gedenktag für die Opfer des NSU zum Beispiel mit einer neuerlichen Nachricht über eine extrem rechte Denkmalschändung in meiner Heimatstadt Zwickau, wo das NSU-Kerntrio jahrelang untergetaucht war, beginnen, aber das wird der Sache nicht gerecht. Es wurden Menschen rassistisch ermordet, und es ist ungerecht, wenn dieser Menschen nur anlässlich ihres Todes gedacht wird. Die Menschen haben Geschichten. Die Menschen haben Namen:

Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.

Nicht zu vergessen ist Atilla Özer, der an den Spätfolgen eines NSU-Anschlags starb. Der rassistische NSU-Terror hinterlässt Wunden, Überlebende von Sprengstoffanschlägen und Angehörige, die bis heute um Aufklärung und Konsequenzen kämpfen. Erst vergangenen Mittwoch titelte die «Welt», nachdem unter anderem der NDR berichtet hatte, dass der NSU-Mord an Süleyman Taşköprü nun endlich wissenschaftlich aufgearbeitet werden soll: «Verlängerten Hamburger Behördenfehler die NSU-Mordserie?» Diese und viele weitere Fragen sind längst nicht hinreichend geklärt, weswegen zivilgesellschaftlicher Druck so wichtig bleibt.

Am 10. November waren wir in Zwickau für eine antifaschistische Gedenkdemonstration auf der Strasse. In einem Audiobeitrag betonte Gamze Kubaşık, Tochter von Mehmet Kubaşık: «Mein Vater und die anderen Opfer sollten niemals vergessen werden.» Mir lief es eiskalt den Rücken runter – auch weil, noch wenige Stunden bevor ich im Stadtzentrum ihre Rede hörte, Sprüche wie «NSU lebe hoch» oder «I love Hitler» auf das Mahnmal für die Opfer des Faschismus geschmiert wurden.

Was mich auch besorgt, sind einige Macker aus linken Splittergruppen, die sich selbst bei einer Gedenkdemo nicht zu schade waren, die Veranstaltung für ihre politische Ideologie zu instrumentalisieren. Ich bin beispielsweise Verfechter einer systemischen Polizeikritik, aber ich bin auch Verfechter von so was wie Anstand: Bei einer Demo, bei der auch der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter gedacht wird, sollten «ACAB»-Parolen einfach nicht im Zentrum stehen. Vor allem wenn dann am Ende des Tages wieder mehr über Parolen, linke Gruppen und Polizeigewalt gesprochen wird als über die Leben und Geschichten der Ermordeten.

Einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass der NSU in Zwickau zumindest nicht unter den Tisch gekehrt werden sollte? Den sucht man hier vergebens – die geschichtsrevisionistische AfD-Propaganda wirkt. Dennoch kamen am 10. November, trotz Störungen eines rechten Streamers und mehrerer Zwischenfälle, 400 bis 500 Menschen zur Gedenkdemonstration zusammen. Das macht mir Hoffnung.

Jakob Springfeld (22) ist eines der Gesichter der linken Gegenöffentlichkeit Ostdeutschlands. Sein 2022 erschienenes Buch «Unter Nazis» trägt auch deshalb den Untertitel «Jung, ostdeutsch, gegen Rechts». In seiner wöchentlichen Kolumne berichtet er bis zum Jahresende jeweils freitags aus seiner Lebensrealität als antifaschistischer Aktivist in Sachsen.