Weil Erdoğan es kann
Am Mittwochmorgen um 7.12 Uhr türkische Zeit veröffentlichte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu ein Video auf X: Der Oppositionspolitiker bindet sich in seiner Garderobe sichtlich nervös eine Krawatte um und kündigt an, nicht aufgeben zu wollen. Dann dreht er sich um, nach 54 Sekunden ist das Video vorbei. Anschliessend – so wissen wir nun – wird İmamoğlu abgeführt, ein Haftbefehl gegen ihn liegt vor: Korrupt soll er sein, unter anderem sei sein Uniabschluss gefälscht. Darüber hinaus soll er Kontakte zu der als terroristisch geltenden PKK haben. So die Vorwürfe. Jetzt sitzt İmamoğlu in Untersuchungshaft.
Ebenfalls am Mittwoch wurden rund hundert Personen festgenommen, die für İmamoğlu arbeiten oder als regierungskritisch gelten. İmamoğlus Bauunternehmen wurde wegen Korruptionsvorwürfen beschlagnahmt. Schon am Dienstag wurde İmamoğlus Diplom wegen angeblicher Unregelmässigkeiten von der Universität Istanbul annulliert – sollte dieser Entscheid bestehen bleiben, wäre seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen. Gemäss der türkischen Verfassung müssen Präsidenten einen Hochschulabschluss haben, um ihr Amt ausüben zu können.
Dass der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan Kritiker:innen und Oppositionelle festnehmen lässt, ist nichts Neues. Bis anhin traf es meist Aktivist:innen, kurdische Politiker:innen und Journalist:innen. Die Verhaftung İmamoğlus ist aber auch für türkische Verhältnisse eine ungewohnte Grössenordnung. Dass ein Bewerber für die Präsidentschaftswahlen wenige Tage vor seiner Nominierung festgenommen wird, hat es in der fragilen demokratischen Republik noch nie gegeben. Letztes Jahr gewann İmamoğlu eine zweite Amtszeit als Bürgermeister von Istanbul, als seine Partei CHP bei den Kommunalwahlen dort und in Ankara einen überwältigenden Sieg errang. Schon bei seinem ersten Sieg bei einer Kommunalwahl im Jahr 2019 versuchte Erdoğan, İmamoğlus Einsetzung zu verhindern: Nachdem der CHP-Politiker gewonnen hatte, musste die Wahl wiederholt werden – doch beim zweiten Wahlgang holte İmamoğlu sogar noch mehr Stimmen. Seitdem regiert er in der Millionenmetropole und ist sehr populär. Mittlerweile gilt er als stärkster Kontrahent Erdoğans und muss sich aus diesem Grund seit Jahren mit politisch gelenkten Justizverfahren und einer drohenden Verurteilung auseinandersetzen.
Die Strategie dahinter ist eindeutig: Die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sind für 2028 vorgesehen. Erdoğan kann nicht erneut kandidieren, da er sich in seiner zweiten Amtszeit als Präsident befindet und zuvor bereits Premierminister war. Er will einen Machtabfall aber unbedingt verhindern und selbst entscheiden, wann er geht. Für eine erneute Wahl müsste er die Verfassung ändern oder es müsste vorzeitige Neuwahlen geben. Daher will der Präsident seinen stärksten Kontrahenten loswerden und die kurdische Opposition für sich gewinnen – deren Stimmen sind entscheidend für Erdoğan. Aus diesem Grund gibt es wieder offizielle Gespräche mit dem inhaftierten früheren PKK-Chef Abdullah Öcalan. Es ist nicht auszuschliessen, dass demnächst als Zugeständnis an die Kurd:innen der seit 2016 inhaftierte ehemalige prokurdische Spitzenpolitiker Selahattin Demirtaş freigelassen wird.
Tausende protestierten am Mittwoch in Istanbul gegen die Festnahme İmamoğlus. Sie widersetzten sich damit dem bis Sonntag geltenden Demonstrationsverbot. Die CHP will İmamoğlu am Sonntag nominieren, auch wenn er dann immer noch im Gefängnis sitzen sollte. Doch dem Inhaftierten nützt dies wenig: Justiz und Medien sind überwiegend regierungstreu und meist abhängig von Erdoğan. Ausser İmamoğlu gibt es derzeit niemanden, den der Präsident fürchten müsste. Beobachter:innen rechnen damit, dass İmamoğlu durch einen von der Regierung gestellten Zwangsverwalter im Amt ersetzt werden könnte. Dann braucht Erdoğan innenpolitisch niemanden mehr zu fürchten – und mit internationalem Druck oder politischen Konsequenzen muss er auch nicht rechnen.