Gazakrieg: Sanitäter als Zielscheibe

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Im Fall der Erschiessung von fünfzehn Rettungskräften im Gazastreifen durch die israelische Armee verdichten sich die Hinweise auf ein mögliches Kriegsverbrechen: Am Wochenende hat ein Video des Vorfalls die anfängliche Darstellung des Militärs widerlegt – mutmasslich gefilmt vom palästinensischen Sanitäter Rif’at Radwan, der eine Woche später mit einer Kugel im Kopf geborgen wurde. Während die Armee zunächst von verdächtigen Bewegungen eines Konvois aus Rettungs- und Feuerwehrwagen ohne Signalleuchten sprach, zeigen die Aufnahmen vom 23. März hell erleuchtete, klar gekennzeichnete Rettungsfahrzeuge, auf die unvermittelt ein minutenlanger Kugelhagel niedergeht. Ein Armeesprecher kündigte daraufhin weitere Untersuchungen an – doch das reicht nicht. Der Vorfall zeigt: Die Angaben der israelischen Armee stammen von einer Kriegspartei, auf deren Wort kein Verlass ist.

Das israelische Militär hält weitgehend an seiner Darstellung fest: Der Angriff sei eine «erfolgreiche Konfrontation mit Terroristen» an Bord der Rettungswagen gewesen, die sich «verdächtig» verhalten hätten. Belege dafür legt es nicht vor – dafür aber bleiben zahlreiche Fragen offen: Warum wirft die Armee dem Palästinensischen Roten Halbmond (PRCS) mangelnde Koordination vor, wenn das betroffene Gebiet erst rund zweieinhalb Stunden nach dem Angriff zur Kampfzone erklärt wurde? Wurden die Schüsse, wie Israel behauptet, aus der Ferne abgegeben – oder, wie ein palästinensischer Forensiker vermutet, aus nächster Nähe? Stimmen die Aussagen von Augenzeugen, die an der Bergung beteiligt waren, wonach eine der Leichen gefesselt gewesen sei – was die Armee bestreitet? Und warum vergruben die Soldaten nicht nur die Leichen, sondern auch die Fahrzeuge im Sand – und liessen laut PRCS und Uno erst eine Woche später Bergungskräfte zum Ort des Geschehens?

Der Angriff vom 23. März ist kein Einzelfall – auch wenn es laut den Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften die tödlichste Attacke auf Mitarbeitende seit 2017 war. Seit Beginn des Krieges seien 27 PRCS-Helfer getötet worden. Laut Uno starben in den vergangenen 18 Monaten 408 ihrer Mitarbeiter bei Angriffen in Gaza. In der Nacht auf Montag tötete die israelische Armee mit einem Luftangriff auf ein Pressezelt neben einem Krankenhaus in Chan Junis zwei Journalisten und eine unbeteiligte Person.

Die Hamas weigert sich weiterhin, die 59 noch in Gaza festgehaltenen israelischen Geiseln freizulassen, und versteckt sich bei ihren sporadischen Raketensalven auf Israel aus bewohnten Gebieten weiter hinter der Zivilbevölkerung. Doch ein Verbrechen rechtfertigt kein anderes. Geboten wäre ein internationaler Aufschrei – auch weil Israel seit über einem Monat rund zwei Millionen Menschen im Gazastreifen von Nahrungs- und Hilfslieferungen abschneidet. Laut der Nachrichtenagentur AP wurde mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus ihren Wohngebieten vertrieben – mit der erklärten Absicht von Verteidigungsminister Israel Katz, das Gebiet dauerhaft zu besetzen. Andere Regierungsmitglieder sprechen offen vom «Transfer» der Bevölkerung in andere Länder. All das sind potenzielle Kriegsverbrechen – oder Aufrufe dazu. Dass irgendetwas davon die Geiseln zurückbringen wird, ist wenig wahrscheinlich.