Tagebuch aus Gaza: Die längste Woche des Krieges
Wie haben die Menschen in Gaza die Verkündung der Waffenruhe erlebt? Die neunzehnjährige Journalistin Malak Tantesh berichtet von Trauer, Angst und Lichtblicken.

Die vorerst letzte Woche des Gaza-Krieges war die längste. Während der Verhandlungen in den Wochen zuvor haben sich die Emotionen geballt – Aufregung und Anspannung, Freude, Angst und Kummer –, und alles brach mit der Verkündung der Waffenruhe am Mittwochabend vor einer Woche hervor. In Chan Junis warteten die Leute vor einem Fernseher auf der Strasse auf die Bestätigung aus Doha. Als der katarische Ministerpräsident auf dem Bildschirm sagte: «Die Kriegsparteien haben einen Deal erreicht», brachen spontane Feiern aus. Jubel, Applaus und nach unzähligen Bombennächten das Leuchten von Feuerwerk am Himmel über Gaza.
Wir feierten unser Überleben, das Ende von Tod, Explosionen und Zerstörung. In diesem Augenblick war alles gleichzeitig da. Die Dankbarkeit, dem Schatten des Todes entkommen zu sein. Die überwältigende Trauer über die Verluste und die Vertreibungen, über den Hunger und die brütende Sommerhitze, die wir ertragen hatten. Und zuletzt die beissend-nasse Kälte des Winters, die in den Körper kriecht, durch alle meine Decken sticht und in der mehrere Babys in Gaza im Schlaf erfroren sind. Trotz allem hat uns die Hoffnung nie verlassen.
Doch das Feuerwerk wurde an jenem Mittwoch bald vom dumpfen Beben der Explosionen und vom Donnern der Kampfjets übertönt. Nur langsam drang zu uns durch: Das Abkommen wird erst am Sonntag in Kraft treten. Seitdem fühlte sich jede Stunde wie eine Ewigkeit an. Nicht nur, dass wir damit noch vier weitere Tage mit der Angst leben mussten, dass jeder Moment unser letzter sein könnte. Wir wussten auch aus Erfahrung, dass die Zeit vor einer Waffenruhe die gefährlichste ist.
Dieses Mal blieb keine Ausnahme. Als bäume sich der Krieg in seinen letzten Momenten auf, um noch so viel Zerstörung wie möglich zu bringen, bevor er zum Ende gezwungen wird. Das ständige Surren der Drohnen, das Knattern der niedrig fliegenden Kampfhubschrauber und die ohrenbetäubenden Explosionen der israelischen Bomben, die uns seit Monaten vom Schlafen abhielten, wurden noch einmal so unerträglich wie in den ersten Tagen des Krieges.
Manche, die sich schon ausgemalt hatten, was sie beim Eintritt der Waffenruhe tun wollten und wie die Zukunft aussehen könnte, mussten ihre neue Hoffnung mit ihren Liebsten begraben. Alleine von Mittwochabend bis Freitag bezahlten laut Nachrichtenagenturen und dem lokalen Gesundheitsministerium mehr als 100 Menschen, davon 30 Kinder und 32 Frauen, die letzten Stunden des Krieges mit ihrem Leben. Ich habe seit dem 7. Oktober 2023 nicht viele enge Verwandte verloren, aber diese Tragödien lasten schwer auf meiner Seele, und ich kann der kollektiven Trauer, die den Gazastreifen durchdringt, nicht entkommen.
Endlich kam der Sonntag, und er kam wie ein Feiertag: Alle waren viel zu früh wach und schon am frühen Morgen auf den Strassen von Chan Junis zwischen den Ruinen und Zeltlagern unterwegs. Wir zählten die Minuten bis 8.30 Uhr. Ich erschrak, als es so weit war und plötzlich Schüsse in der Nähe fielen, bis ich verstand, dass es Freudenschüsse waren. Auf der Strasse begannen sich die Menschen zu drängen, eine Gruppe Buben tanzte auf der Kreuzung, überall wurden Süssigkeiten verteilt.
Doch auch diesmal dröhnten weiter Drohnen am Himmel, wummerten Panzergeschütze aus der Richtung der israelischen Grenze. Nach und nach verbreitete sich die Nachricht, dass Israel das Abkommen nicht umsetzen wolle, solange die Namen der drei Geiseln nicht übergeben wären, die am Nachmittag freikommen sollten. 165 Minuten dauerte es noch, bis dann das Surren der Drohnen am Himmel zum ersten Mal seit Monaten verstummte. Laut dem Zivilschutz starben in diesen Minuten neunzehn Menschen durch die andauernden Angriffe.
Am Sonntagabend dann übergaben die Kassam-Brigaden, der bewaffnete Arm der Hamas, auf der Saraia-Kreuzung in Gaza-Stadt die drei israelischen Gefangenen. Sie hatten dazu eine Art Militärparade organisiert und wurden von einer Menschenmenge bejubelt.
Für viele war es das Startsignal, um zu ihren Häusern, ihren Verwandten, ihren Läden und Betrieben zurückzukehren. Ich telefonierte für meine Arbeit als Journalistin mit Menschen in Gaza-Stadt im Norden, die für uns weiter unerreichbar sind, solange die israelische Armee den Korridor im Zentrum des Gazastreifens besetzt. Viele wollen, so schnell es geht, nach Angehörigen suchen und ihre Häuser in Beit Lahia, Dschabalia oder Beit Hanun im Norden sehen. Ich sprach mit ehemaligen Bewohner:innen von Rafah im Süden, die sich sofort auf den Weg machen wollten.
Meine Familie und ich gehen noch nicht zurück in den Norden. Wir wollen warten, bis die Strassen geräumt und der gröbste Schutt beseitigt ist. Gaza liegt voller Überreste des Krieges, die noch lange Leben kosten werden: nicht explodierte Geschosse, Granaten, Patronen und Sprengfallen. Der Zivilschutz hat davor gewarnt, zurückzukehren.
Doch es sind nicht nur die Waffen überall: Neun von zehn Häusern sollen zerstört sein, die Wasserversorgung, der Strom, die Spitäler. Zwischen den Ruinen zu leben, ist giftig und tödlich. Es heisst, dass deswegen noch weit mehr als die 47 000 Gazabewohner:innen sterben werden, die die Behörden bisher als Kriegstote gezählt haben – an Krankheiten, Hunger, Vertreibung, Schmerz und Kälte. Viele sprechen von «betrübter Freude», wenn sie ihre Gefühle nach der Waffenruhe beschreiben.
Seit Sonntag hat sich unseren Sorgen eine neue hinzugesellt: Statt der Angst vor dem Tod begleitet uns jetzt die ständige Anspannung, dass die Ruhe täuschen könnte, dass die Feuerpause in sich zusammenbricht. Ich lese, dass israelische Minister die Regierung stürzen wollen, wenn sie den Krieg nicht fortsetzt. Dass die Armee statt gegen uns nun gegen Palästinenser:innen im Westjordanland in Dschenin vorgehen will.
Die meisten, die sich in Richtung Nordgaza oder Rafah und zu dem, was von ihrem Land und ihren Häusern übrig ist, aufgemacht haben, mussten wieder zurückkehren. Die Städte dort sind fürs Erste unbewohnbar, Ruinenlandschaften ohne jede Versorgung. Dasselbe erzählen Menschen, die nach Rafah oder in den Osten von Chan Junis zurückgegangen sind.
Dazwischen gibt es Lichtblicke: Es kommen mehr Hilfslieferungen und Waren nach Gaza. Dinge, die ich seit Monaten nicht mehr gesehen habe. Es ist, als käme mit jeder Tüte ein Stück Normalität zurück. Die Polizisten, die während des Krieges oft zu Zielen von Angriffen wurden, sind zurück in den Strassen. Viele haben sie begrüsst, weil sie ein Stück Sicherheit bringen. Viele, mit denen ich spreche, wünschen sich ein neues politisches System, geführt von Fachleuten und Technokraten, die jenseits von militärischen und politischen Auseinandersetzungen den Wiederaufbau leiten.
Ich spüre viel Optimismus um mich herum, aber ich fürchte, dass dieses Abkommen, wie so viele zuvor, zerbrechen wird. Zumindest bisher sind meine Befürchtungen unberechtigt: Der Deal hält.
Ich bin erleichtert, dass das Blutvergiessen und die Gewalt aufgehört haben. Aber wir fangen gerade erst an, die Schrecken zu verarbeiten, die wir in den vergangenen fünfzehn Monaten erlebt haben. Mir fällt nicht einmal auf Arabisch ein Wort ein, das beschreiben könnte, was wir durchlebt haben. Die Kämpfe mögen vorbei sein, doch Überleben bleibt eine tägliche Herausforderung. Der Wiederaufbau wird eine gewaltige Aufgabe sein, und die Narben – sowohl physisch als auch psychisch – werden uns noch viele Jahre lang begleiten. Ich hoffe inständig, dass die Tage der Ungewissheit schnell vorübergehen und ein neues Kapitel beginnt. Dass sich unsere Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft erfüllen.
Malak Tantesh ist Reporterin in Gaza. Sie schreibt regelmässig für den «Guardian».
Übersetzung aus dem Englischen und Mitarbeit: Felix Wellisch.