Der gute Zoff

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«Das ist nicht deine erste Demo, oder?», frage ich eine bejahrte Vermonterin mit Gehstock in der einen und Protestplakat in der anderen Hand, die ich auf dem Weg zum lokalen Hands-Off-Rally in Montpelier antreffe. «Nein», lacht die Kampfgenossin, «das war 1963 oder 1964.» Wir reden dann aber nicht über die guten alten Zeiten, sondern über die schlechten neuen: Sexismus, Rassismus, Imperialismus, Faschismus, Klassenkampf von oben – der ganze Dreck vom Misthaufen der Geschichte wird gerade neu aufbereitet. Doch auch der Wille zum Widerstand ist wieder (oder immer noch) da.

Vom leicht erhöht gelegenen Parlamentsgebäude blicke ich auf ein Meer von Fahnen, handgemalten Plakaten, Schirmen und Hüten. Etlichen demonstrierenden Vermonter:innen bin ich schon an früheren Kundgebungen begegnet, etwa im Februar 2017 beim Women’s March oder im Sommer 2020 bei den «Black Lives Matter»-Protesten. Doch ich treffe diesmal auch auf Bekannte, die ich niemals bei einer politischen Kundgebung erwartet hätte.

Es regnet. Es ist kalt. Egal. Mich wärmt eine spontane Begeisterung, die der französische Soziologe Émile Durkheim (1858–1917) mit dem gestelzten Begriff «kollektive Efferveszenz» umschrieb. Der 2020 verstorbene Schwarze Bürgerrechtler John Lewis sagte es einfacher: «Making good trouble» – guten Zoff machen.

Geduldig, ja fast schon gerührt höre ich den wenig überraschenden Reden zu. Die über neunzigjährige ehemalige Vermonter Gouverneurin und US-Botschafterin in der Schweiz Madeleine Kunin sagt, für den Widerstand brauche es dreierlei: Wut auf den Status quo, die Vorstellung einer besseren Welt sowie Optimismus, um durchzuhalten. Die nachfolgende Sprecherin, eine junge Asylaktivistin, ist so wütend, dass sie ihre kleine Tochter auf den Arm nehmen muss, weil die sich davor ängstigt, dass die Mama so schreit. Gleich nach der trans Person in wallenden Röcken spricht der dezent gestylte trumpkritische Republikaner. Ganz so politisch divers war das Redepodium bei Demos bisher kaum. Doch jetzt ist man sich einig, dass es für den Widerstand im Trumpozän vor allem eines braucht: Rückgrat.

Links und rechts des Redezelts hat sich mittlerweile strategisch klug die Pro-Palästina-Fraktion aufgestellt. Die Aktivist:innen fordern laut und deutlich «Free Palestine» und «Free Mahmoud» – aber sie skandieren bloss in den Redepausen. Als das offizielle Mikrofon ausfällt, leihen sie den Organisator:innen sogar eines ihrer Megaphone. Man kann diese Stimmung als Friede, Freude, Eierkuchen abtun. In meiner Hochstimmung hoffe ich, dass sie gegenseitigen Respekt widerspiegelt.

An die 25 000 Menschen sind letzten Samstag in Vermont auf die Strasse gegangen, auf Schweizer Verhältnisse übersetzt wären das rund 350 000 Demonstrierende. Definitiv ein guter Zoff. Auch wenn ich mich daran erinnere, dass solche Zahlen von Überwachungsdrohnen produziert werden. Dass ähnliche oder noch grössere politische Aufmärsche während Trumps erster Regierungszeit enttäuschend wenig bewirkten. Dass vor und nach jeder Kundgebung unter den Linken wie eh und heftig gestritten wird. Dass es (noch) viel zu viele Akteure in der US-Zivilgesellschaft gibt – von Universitäten über grosse Anwaltskanzleien, Medienkonzerne und Tech-Firmen bis zu Teilen der demokratischen Partei –, die glauben, sich mit einem Autokraten arrangieren zu können. Und bereits sind weitere Demos angesagt.

An die­ser Stel­le le­sen Sie im­mer frei­tags «Fuss­no­ten aus dem Trumpo­zän» von Lot­ta Sut­er. Die Mit­be­grün­de­rin so­wie lang­jäh­ri­ge Re­dak­to­rin und Aus­lands­kor­re­spon­den­tin der WOZ lebt seit vie­len Jah­ren im US-Bun­des­staat Ver­mont. Von die­ser länd­li­chen Pe­ri­phe­rie aus schreibt sie bis Mit­te Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Po­li­tik in Wa­shing­ton lauscht.