Kanada bleibt liberal – vorerst
In Kanada ist eine Realität eingetreten, die noch vor wenigen Monaten unmöglich schien: Zum vierten Mal in Folge haben die Liberalen – diesmal unter dem ehemaligen Zentralbankchef Mark Carney – eine Parlamentswahl gewonnen. Carney ist seit März als Nachfolger Justin Trudeaus im Amt. Sowohl die Liberalen als auch die Konservativen kamen auf über vierzig Prozent aller Stimmen. Alle anderen Parteien schrumpften gewaltig.
Das Resultat ist das bestmögliche Szenario in einer Situation, die keine guten Szenarien zulässt. Kanada wird bedroht in seiner Identität und vom engsten Freund und Handelspartner verraten.* Die Grenze zwischen den USA und Kanada ist fast 8900 Kilometer lang und damit weltweit die längste zwischen zwei Staaten. Fast achtzig Prozent aller Exporte gehen in die USA. Der Zollkrieg tut Kanada mehr weh als dem Nachbarn. Mit der Wahl signalisiert ein Grossteil der Kanadier:innen: Den Handelskrieg gegen Trump und den Kampf gegen dessen Expansionsfantasien auszufechten, trauen sie eher dem nüchternen Ökonomen Carney zu als dessen Maga-light-Gegenspieler Pierre Poilievre von der Konservativen Partei. In seinen Reden darüber, wie die Liberalen Kanada zugrunde gerichtet hätten, ahmte Poilievre gerne Donald Trump nach – jetzt bezahlt er den Preis für diese Rhetorik. Zwar ist er im Moment der Verlierer. Aber die starke Spaltung lässt erahnen: Die Blütezeit seiner Partei wird noch kommen.
Für eine absolute Mehrheit hätten die Liberalen 172 von 343 Parlamentssitzen gebraucht. Dafür fehlen ihnen nun 4 Sitze. Erneut werden sie also eine Minderheitsregierung stellen. Um Gesetze durchzubringen, sind sie auf die Unterstützung kleinerer und geschwächter Parteien wie der sozialdemokratischen NDP angewiesen. In der Konsequenz bedeutet diese Regierungsform eine geringere Legitimität und oft eine kürzere Regierungszeit. Den Grund für den Sieg der Liberalen allein in der Bedrohungslage zu suchen, wäre zu kurz gedacht. Spricht man mit den Menschen im Land, schildern viele eine schlechter gewordene Lebensqualität und immer höhere Kosten. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist in Kanada fast ein Drittel niedriger als in den USA.
Im Arbeiter:innenviertel Windsor West, seit Jahrzehnten fest in sozialdemokratischer Hand, müssen Abgeordnete ihre Sitze an die Konservativen abgeben. Dieser Trend mag symptomatisch für eine tektonische Verschiebung sein, die sich in Kanada langsamer und stiller vollzieht als im Nachbarland, die aber nicht aufzuhalten ist. Vorerst konnte der Technokrat und konservative Liberale Carney mit seiner pragmatischen Art eine rechtspopulistische Regierung abwenden. Das ist erst mal eine gute Nachricht. Aber es ist wahrscheinlich nur eine Erleichterung auf Zeit.
* Korrigenda vom 6. Mai 2025: In der alten Version des Tagestexts wurde irrtümlich behauptet, dass Kanada keinen eigenen militärischen Schutz hat. Richtig ist, dass das Land über eine Armee verfügt.