Theatralische Grenzen

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Im nahen Grenzdorf Derby Line (666 Einwohner:innen) steht ein historisches Gebäude namens Haskell Free Library and Opera House, in dem meine US-amerikanische Schwiegermutter mehr als einmal in Ohnmacht fiel. Sie schwärmte trotzdem von dem kleinen Theater, in dem die Hälfte des Publikums in der kanadischen Provinz Québec sitzt, die andere Hälfte im US-Bundesstaat Vermont. Als ehemalige Bibliothekarin war sie begeistert, dass die Kinderstunden am Samstagmorgen jeweils zweisprachig, in Englisch und Französisch, abgehalten wurden. Am meisten aber gefiel ihr das Spielerische an dieser theatralischen Landesgrenze, die in jedem Raum mit einem schwarzen Klebeband am Boden fein säuberlich markiert ist, aber ohne Pass und andere Zollformalitäten überschritten werden kann.

Das einzigartige Kulturzentrum wurde Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Willen der Gönnerin Martha Stewart Haskell absichtlich auf der Grenze zwischen den USA und Kanada errichtet, um den Bevölkerungen beider Nationen gleichermassen zu dienen. Eine praktische Dienstleistung in der kulturell etwas kargen Gegend, aber auch ein starkes Symbol für die Verbundenheit von Vermont und Québec.

Selbstverständlich hat die Regierung Trump ein ganz anderes Theater im Kopf, wenn es um Grenzen geht. Kein Lustspiel, sondern eine Horrorshow: maskierte ICE-Grenzpolizist:innen, Menschen in Handschellen und Fussfesseln, Käfige voller glattrasierter Häftlinge, mit Stacheldraht gesicherte Mauern, Gewehre im Anschlag. Auf der dazugehörenden Tonspur: die endlose Verunglimpfung der Grenzgänger:innen als katzenfressendes, drogendealendes, mordendes Ungeziefer, welches das reine US-amerikanische Blut vergiftet. Dieses Schauspiel betrifft vor allem den Süden der USA oder Menschen, die aus dem Süden gekommen sind.

Im Norden erstreckt sich die 8891 Kilometer lange Grenze zwischen den USA und Kanada. Es ist die längste Grenze der Welt, und Präsident Donald Trump möchte sie bekanntlich lieber abschaffen als sichern. Er propagiert ein «schönes grosses Nordamerika» mit Kanada als Annexion der USA, deren Landfläche sich so auf einen Schlag verdoppeln würde. Doch bisher zeitigten weder Schmeicheleien noch Drohungen den geringsten Erfolg. Im Gegenteil: Trump stärkte einzig den kanadischen Nationalismus – und auch die Solidarität der Vermonter:innen mit ihren Nachbar:innen ennet der Grenze.

Als Teil des Kanada-Propagandafeldzuges besuchte die Heimatschutzministerin Kristi Noem Ende Januar auch die Haskell Free Library. Sie spazierte von Raum zu Raum und stellte sich erst auf die US-Seite, wo sie erklärte: «Die USA, Nummer eins!». Dann wechselte sie über den schwarzen Strich auf das kanadische Territorium und verkündete: «Der 51. US-Bundesstaat.» Ausser der Ministerin und ihrer Entourage fand das niemand lustig.

Da Trump die US-Kanada-Grenze vorläufig nicht aufheben kann, markiert er sie mit dickem schwarzem Filzstift. Bei der Haskell Library und dem dazugehörenden Opera House hat er ein grosses Kreuz gemacht: Schluss mit dem Grenztheater! Das Heimatschutzministerium zitiert «gefährlichen Drogenhandel», um den Kanadier:innen ab Oktober den zollfreien Zugang zum historischen Gebäude zu verweigern. Die Haskell Library sammelt nun Geld für einen neuen Eingang auf kanadischer Seite.

Im Übrigen, wird gemunkelt, erwäge die Regierung Trump zurzeit eine eigene Reality TV Show, bei der ein Dutzend Bewerber:innen vor laufender Kamera um das US-amerikanische Bürgerrecht kämpfen sollen. Zu gewinnen sind nebst dem Bürgerrecht selbst auch Flugmeilen der American Airlines, Gutscheine für Starbucks und Gratisbenzin für den Rest des Lebens. Arbeitstitel des Projekts ist «The American».

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags «Fussnoten aus dem Trumpozän» von Lotta Suter. Die Mitbegründerin sowie langjährige Redaktorin und Auslandskorrespondentin der WOZ lebt seit vielen Jahren im US-Bundesstaat Vermont. Von dieser ländlichen Peripherie aus schreibt sie bis Mitte Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Politik in Washington lauscht.