Nato-Gipfel: Schöne Zeitenwende
Scheveningen in Den Haag kurz vor Beginn des Nato-Gipfels: Der Boulevard war am bislang wärmsten Wochenende des Sommers ein einziger Jahrmarkt. Tausende vergnügten sich auf dem Pier und am Strand, brechend voll waren Fischbuden und Schnellrestaurants. Draussen auf See lagen unterdessen Fregatten, Militärhubschrauber kreuzten am Himmel. In einem mondänen Strandhotel checkte vor den Augen zahlreicher Tourist:innen eine Einheit Soldat:innen ein, in Tarnuniformen und mit umgehängten Gewehren.
All dies war natürlich dem Nato-Gipfel von dieser Woche geschuldet, der in der angespannten globalen Lage mit den höchsten Kosten und Sicherheitsstandards der Geschichte aufwartete. Zugleich zeigt sich in den Szenen im Strandviertel das Antlitz jener «Zeitenwende», die der einstige deutsche Kanzler Olaf Scholz kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ausrief. Nach über drei Jahren Krieg hat sie Gestalt angenommen: in einer Militarisierung des Alltags, in Diskussionen über die Wiedereinführung der Wehrpflicht in verschiedenen Ländern oder in Appellen an die Bevölkerung, sich für den Katastrophenfall zu wappnen.
Der übergeordnete politische Ausdruck all dessen ist die neue Nato-Norm, dass jährlich fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts der Verteidigung dienen sollen – ein Ziel, das die Bündnispartner bis 2035 realisieren wollen. Vereinbart schon kurz vor der Eröffnung, wurde der Beschluss zum Herzstück eines Gipfels, den Generalsekretär Mark Rutte als «historisch» bezeichnete. Damit kommen die europäischen Nato-Mitglieder den USA entgegen, weil diese als einstiger Sicherheitsgarant seit Beginn der zweiten Trump-Präsidentschaft offen damit drohen, andernfalls abtrünnig zu werden.
Die Dimension dieses Beschlusses ist daran zu erkennen, dass die bisherige Norm von zwei Prozent zwar 2014 vereinbart, aber erst unter dem Eindruck des Krieges gegen die Ukraine in die Realität umgesetzt wurde. Wie es mit dem neuen Ziel in der Praxis aussieht, bleibt abzuwarten. Spanien gab seinen Widerstand erst kurz vor dem Gipfel auf, aus Belgien und der Slowakei erklingen weiter kritische Stimmen. Auch andernorts werden gesellschaftliche Diskussionen folgen, wenn die Umverteilungen im zweistelligen Milliardenbereich konkret werden – und damit fühlbar.
Genau hier liegt eine entscheidende Aufgabe für die in ganz Europa strauchelnde Linke: darauf zu bestehen, dass diese Entwicklung nicht zulasten des Sozialen, der Bildung oder des Klimas geht. Letzteres spielt im Diskurs auf dem Kontinent kaum noch eine Rolle. Das neue Vorzeigeprojekt der EU dient der Wiederbewaffnung. Green Deal? «So 2019», scheint die Einstellung der Brüsseler Kommission zu sein. Auch das ist ein Aspekt der Zeitenwende. Unter Infrastrukturmassnahmen verstehen 2025 viele eher, die Strassen für Panzertransporte nach Osten tauglich zu machen, als den öffentlichen Verkehr erschwinglich und flächendeckend zu gestalten.
Es geht nicht darum, eine platte Opposition zur Nato um ihrer selbst willen zu formulieren, eine, die antiimperialistische Positionen als Untote des Kalten Krieges wiederbelebt und zur Relativierung des russischen Angriffskriegs oder des Regimes in Teheran führt. Nötig ist aber ein soziales, verteilungsgerechtes Korrektiv einer Entwicklung, die in rasantem Tempo Politik, Ökonomie und Gesellschaft in Richtung Kriegstauglichkeit transformiert.
Nicht zuletzt geht es also darum, die Balance zu halten – zwischen der Analyse sehr realer, bedrohlicher geopolitischer Szenarien und dem Anspruch, dass Verteidigungspolitik trotzdem nicht alle anderen Bereiche überlagern darf. Es geht darum, dass, wer Kritik äussert, dafür nicht der Unterminierung der kollektiven Sicherheit verdächtigt wird. Und langfristig auch um eine offene Frage, die als Fazit des Gipfels bleibt: Wie werden sich die «ernsthaften Bedrohungen», die Rutte bei seiner Rede zum Bankett in Den Haag erwähnte, und die längst begonnene Militarisierung auf die in vielen Staaten zunehmenden autoritären, illiberalen Tendenzen auswirken?