Drohnen über Europa: Schneller Vorlauf in den Krieg?

Nr. 40 –

Die Luftraumverletzungen in mehreren EU-Staaten künden von einer neuen Realität. Über den Ostseeraum rückt der Konflikt mit Russland ins Zentrum der Union vor.

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Mobiles Militärradar auf der Insel Amager
Die Frage, ab wann die europäischen Nato-Staaten aktive Kriegsparteien sind, stellt sich mit neuer Dringlichkeit: Mobiles Militärradar auf Amager, südwestlich von Kopenhagen.
 
Foto: Steven Knap, Imago

Wenn Historiker:innen einmal analysieren werden, wie sich die Konfrontation zwischen der Nato und Russland zuspitzte, könnte der Spätsommer 2025 eine besondere Rolle spielen. Immer häufiger drangen in den letzten Wochen Flugkörper in den Luftraum mehrerer Nato- und EU-Mitgliedstaaten ein: russische Kampfflugzeuge in den estnischen, Drohnen wiederholt in den polnischen – bis die Luftwaffe einige davon abschoss. Auch in Litauen und Rumänien wurden nach entsprechenden Vorfällen nun erleichterte Regeln zum Abschuss von Drohnen beschlossen.

Drohnen unbekannter Herkunft wurden zuletzt auch über Schweden und dem norddeutschen Bundesland Schleswig-Holstein gesichtet. Und als nahe der Flughäfen von Oslo und Kopenhagen Ende September Drohnen auftauchten, stand der Flugverkehr vorübergehend still. Betroffen waren auch der grösste Militärstützpunkt Dänemarks und ein norwegischer Militärflughafen, zudem drei weitere dänische Flughäfen. Russland dementiert die Beteiligung an letzteren Vorfällen, während die dänische Regierung von einem «hybriden Angriff» und dem «bislang schwersten Anschlag auf die kritische Infrastruktur» des Landes spricht.

Ins Zentrum getragen

Dafür, dass das nur sechs Millionen Einwohner:innen zählende Dänemark anscheinend urplötzlich in den Mittelpunkt der Ereignisse gerückt ist, gibt es mehrere Gründe: Die Regierung in Kopenhagen ist nicht nur eine besonders treue Unterstützerin der angegriffenen Ukraine, sondern richtet Mitte dieser Woche als turnusmässige Ratsvorsitzende auch einen EU-Gipfel aus. Geostrategisch ist Dänemark trotz seiner geringen Grösse bedeutend, weil es die Ostsee über die Wasserstrassen von Kattegat und Skagerrak mit Nordsee und Atlantik verbindet. Der Ostseeraum wiederum hat sich in diesem Jahr neben der sogenannten Ostflanke zur zweiten Region innerhalb der Nato entwickelt, in der sich die Konfrontation mit Russland in schnellem Tempo verschärft.

Auffällig ist aber auch ein weiterer Aspekt: Blossgestellt in seiner ganzen Verletzbarkeit wird hier nicht nur der Gastgeber des besagten EU-Gipfels und damit die Union selbst, sondern auch ein Nato-Gründungsmitglied, gelegen im Inneren des Bündnisses. Spielte sich der Konflikt bislang konstant – und in Westeuropa lange Zeit zu wenig wahrgenommen – an dessen östlichen Rändern ab, so haben ihn die Drohnen nun ins Zentrum getragen. Dieser Schritt weicht ab von den Szenarien, die weithin für die künftige Entwicklung angenommen wurden und die etwa der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala in seinem vielbeachteten Buch «Wenn Russland gewinnt» entwirft.

Mit dieser Plotwendung von Ende September drängt sich auch die Frage nach den Konsequenzen auf. Sowohl der Uno-Botschafter der USA, Michael Waltz, als auch Nato-Generalsekretär Mark Rutte und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigten zuletzt an, man werde «jeden Zentimeter» des Nato-Gebiets verteidigen. Während Masala in seinen Gedankenspielen eruiert, ob kleine Teile der baltischen Peripherie der Nato eine Eskalation wert seien, stellt sich diese Frage umso weniger, je mehr nun ihr Kerngebiet in den Fokus gerät. Die neue, konkrete Dynamik in diesem Bedrohungsszenario scheint, als hätte jemand eine «Schneller Vorlauf»-Taste gedrückt. Fraglich ist, wo sie hinführt.

Friedrich Merz, der deutsche Kanzler, beschrieb den aktuellen Zustand diese Woche als «nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden». Als von der Leyen vor drei Wochen ihre jährliche Rede zur Lage der Union hielt, hiess es gleich zu Beginn: «Europa befindet sich in einem Kampf. Einem Kampf für einen vereinigten, friedlichen Kontinent, für ein freies, unabhängiges Europa. Dies ist ein Kampf für unsere Zukunft.» Die Entwicklung seither verleiht diesen Worten ungleich mehr Dringlichkeit. Von der Leyen gab in einem CNN-Interview unlängst an: «Die Option, ein Kampfflugzeug abzuschiessen, das in unseren Luftraum eindringt, liegt auf dem Tisch.»

Für die EU bedeuten die letzten Wochen eine weitere dramatische Wendung in einem überaus turbulenten, von existenziellen Unwägbarkeiten geprägten Jahr. Es begann mit der Münchener Rede von J. D. Vance, mit der Donald Trumps Stellvertreter nahezu das gesamte transatlantische Porzellan zerschlug. Schnell folgte mit der zynischen Vorführung Wolodimir Selenskis im Weissen Haus ein weiterer Tiefpunkt, ehe sich das Verhältnis zu den USA auf dem Den Haager Nato-Gipfel konsolidierte. Dort wurde zugleich der Aufbruch ins Zeitalter der Fünf-Prozent-Rüstungsausgaben besiegelt, ehe die trumpsche Deal-Diplomatie ein weiteres Mal verdeutlichte, wie hart Europa auf geopolitischem Feld um Einfluss kämpfen muss.

Dass die vermeintlich so nahen Friedensverhandlungen bislang ausblieben, hat freilich auch mit just diesem Einfluss zu tun: Europa fordert Sicherheitsgarantien für die Ukraine und bietet, im demonstrativen Bewusstsein, die Lektion vom Jahresbeginn gelernt zu haben, dort eigene Truppen an. Genau das aber ist für den Kreml ein rotes Tuch: Putin bezeichnete westliche Militärs in der Ukraine deutlich als «legitimes Ziel». Wenig später verlagerten sich die Drohnenüberflüge in den Ostseeraum – als gelte es, diesem «Ziel»-Status möglichst nachdrücklich Ausdruck zu verleihen.

Verschobene Rollen

Die Frage, ab wann die europäischen Nato-Staaten aktive Kriegsparteien sind, stellt sich in dieser Konstellation mit neuer Dringlichkeit. Allein im September wurden zweimal von EU-Mitgliedern – Polen und Estland – Beratschlagungen auf Basis von Artikel 4 des Nato-Vertrags beantragt, wenn also ein Mitglied die eigene oder die kollektive Sicherheit gefährdet sieht. Innerhalb der EU gewinnt unterdessen der Plan an Gewicht, die Kriegskosten der Ukraine mittels eines dreistelligen Milliardenkredits aus eingefrorenen russischen Vermögen zu stemmen.

Der besagte Kopenhagener EU-Gipfel findet nun unter erheblich verschärften Sicherheitsvorkehrungen statt. Zivile Drohnen sind in Dänemark während der gesamten Woche verboten. Frankreich, Deutschland und Schweden schicken Militärs, um das Treffen gegen eine Bedrohung aus der Luft zu sichern. Auch die Ukraine hat angekündigt, ein Antidrohnenteam nach Dänemark zu entsenden – ein Anzeichen dafür, dass sich die zuvor klaren Rollen von hilfeleistenden und empfangenden Ländern verschieben.

Langfristig plant die EU einen sogenannten Drohnenwall, ein gemeinsames Abfangsystem für unbemannte Flugkörper, das Ende 2026 funktionsfähig sein könnte. Eine erste Videobesprechung unter Vorsitz der EU-Kommission fand bereits statt. Bulgarien, Dänemark, Finnland, Ungarn, die baltischen Staaten, Polen, Rumänien, die Slowakei sowie die Ukraine nahmen teil ebenso wie die Nato und EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas. Bei dem Projekt geht es darum, eine strukturelle Sicherheitslücke im Osten der EU zu beheben, ohne dass dabei eine exorbitante finanzielle Belastung entsteht: Der Einsatz von Kampfflugzeugen gegen Drohnen ist zwar effektiv, aber angesichts der Kosten nicht im grossen Rahmen realisierbar.

Wie gross die Aufgabe ist, vor der die EU-Mitgliedstaaten stehen, zeigt sich auch an zwei aktuellen Meldungen: In den Niederlanden wurden kürzlich zwei Siebzehnjährige festgenommen, die der Spionage für Russland verdächtigt werden. Vermeintlich angeworben in einer Chat-Gruppe, sollen sie in Den Haag WLAN-Netzwerke in der Nähe der Polizei- und Justizbehörden Europol und Eurojust sowie der kanadischen Botschaft ausgekundschaftet haben. In der Slowakei wurde am gleichen Tag bekannt, dass das populistisch regierte Land künftig im Gegensatz zu den EU-Verträgen das nationale Recht über das europäische stellen wolle.

Auch solche Entwicklungen gehören zu den Puzzlestücken, aus denen sich die neue Realität der EU in diesem Herbst zusammensetzt. «Die Frontlinien einer neuen Weltordnung, basierend auf Macht, werden nun gezeichnet», so nannte es Ursula von der Leyen bei ihrer Erklärung vor wenigen Wochen und folgerte: «Ja, Europa muss kämpfen.» Bislang lautete das Credo, dank starker Aufrüstung über genug abschreckendes Potenzial zu verfügen, um sich in dieser Weltordnung zu behaupten. Die letzten Wochen zeigen, dass es dabei nicht bleiben könnte.