Türkei: Der alte Hass marschiert
In der Nacht auf Dienstag haben sich in Istanbul Islamist:innen vor der Redaktion der Satirezeitschrift «Leman» versammelt. Sie bewarfen das Bürogebäude mit Steinen und schlugen mit Knüppeln auf die Fassade ein. Anhänger:innen dschihadistischer Gruppen skandierten Parolen wie «Nieder mit dem Laizismus, es lebe die Scharia» und «Ungläubiges ‹Leman› wird Rechenschaft ablegen». Anschliessend verrichteten sie demonstrativ ein gemeinsames Gebet vor dem Gebäude.
Auslöser war eine Karikatur, die «Leman» vergangene Woche veröffentlicht hatte: Sie zeigt, wie Raketen auf Gebäude herab regnen, während zwei Figuren am Himmel erscheinen, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. «Selamun aleyküm, ich bin Mohammed», sagt die eine, worauf die andere erwidert: «Aleyhem shalom, ich bin Moses.» Die beiden reichen sich dabei die Hand.
Der türkische Justizminister Yılmaz Tunç kritisierte die Karikatur scharf. Keine Freiheit rechtfertige es, «religiöse Heiligtümer ins Lächerliche zu ziehen». Die Darstellung des Propheten Mohammed verletze nicht nur religiöse Werte, sondern gefährde auch den gesellschaftlichen Frieden. Man werde rechtlich entschieden gegen diese «Provokation» vorgehen. Vier Mitarbeitende des Satiremagazins wurden in Untersuchungshaft genommen.
Die «Leman»-Karikaturistin Zehra Ömeroğlu schrieb am Dienstagmittag auf Instagram: «Was gestern geschehen ist, kommt uns bekannt vor. Es sind 32 Jahre vergangen, und doch passiert dasselbe.» Der Aufmarsch der Dschihadist:innen erinnerte sie offenbar an das Sivas-Massaker vom 2. Juli 1993, bei dem ein religiös-nationalistischer Mob einen Brandanschlag auf ein Hotel verübte und 35 Menschen alevitischen Glaubens ermordete. «Wie so oft bleibt uns nichts anderes übrig, als das zu tun, was wir am besten können: weiter erzählen, weitermachen», schrieb sie weiter.
Der Angriff auf «Leman» reiht sich ein in eine Welle zunehmender Repression gegen Medien, Journalist:innen und Oppositionelle. Erst am 28. Juni wurde der bekannte Journalist İrfan Değirmenci bei einer Pride-Veranstaltung der linken TİP (Arbeiterpartei der Türkei) zusammen mit rund vierzig Personen festgenommen. Am nächsten Tag wurden alle wieder freigelassen, teils unter Auflagen wie Ausreiseverbot oder Meldepflicht. Auch oppositionelle Fernsehsender stehen unter Druck: Die staatliche Medienaufsicht RTÜK verhängte ein zehntägiges Sendeverbot gegen «Halk TV» wegen angeblicher «Spaltung der Gesellschaft» und belegte «Sözcü TV» sowie «Tele1» mit Geldstrafen. Weitere «Verstösse» könnten zum vollständigen Lizenzentzug führen. Gestern wurden zudem über hundert Angestellte der Stadtverwaltung der oppositionellen Hochburg Izmir festgenommen.
In diesem Klima gezielter Einschüchterung überrascht es kaum, dass sich am Dienstag ein Mitglied der dschihadistischen Aczmendi-Sekte vor der «Leman»-Redaktion bei Präsident Erdoğan für dessen Politik bedankte – mit der Redewendung: «Başımızın üstünde yerin var.» Wörtlich: «Du hast deinen Platz über unserem Kopf.» Ein Ausdruck von Ergebenheit, reserviert für jene, die man ehrt, schützt und über alles stellt. Ein Platz also wie ein Thron.