Die politische Freundlichkeit

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Auf dem Weg zu meinen Streichquartettproben komme ich jeweils an einem Hippiehaus vorbei, dessen Bewohner:innen aus ihrer Gesinnung kein Geheimnis machen. Auf ständig wechselnden farbigen Fahnen verkünden sie: Peace. Pride. Black Lives Matter. No Kings.

Letzte Woche bremste ich in der Linkskurve überrascht ab. Auf dem neuesten Banner stand «Vermont Kindness Project». Der englische Ausdruck «Kindness» ist schwierig zu übersetzen. Ich versuche es seit Jahrzehnten je nach Kontext mit Mitgefühl, Wohlwollen oder Nachsicht, mit Solidarität, Nächstenliebe oder Barmherzigkeit. Auch Güte habe ich schon gebraucht, ebenso Verständnis oder sogar das berndeutsche Wort Gschpüri. «Kindness» ist verbindlicher als Freundlichkeit und nicht ganz so intensiv wie Freundschaft.

Das «Vermont Kindness Project» entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Therapiezentrum für Traumageschädigte. Es bewirbt Interessent:innen mit der hohen Maxime: «Wir glauben, dass es an der Zeit ist, eine hellere und liebevollere Welt zu schaffen. Kindness zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zur Erde kann und muss die Welt retten.»

Erst war ich ein wenig enttäuscht, denn ich hatte mir etwas weniger Esoterisches vorgestellt. Etwas Politisches. Doch dann dachte ich daran, wie oft ich dem Begriff «Kindness» seit Trumps erneuter Wahl begegnet bin: beim Familientreffen, im Freundeskreis, im Orchester, bei der Beerdigung, beim Einkaufen, bei der täglichen Zeitungslektüre, an der Demo. Verschiedene Menschen meinten mit Kindness etwas Unterschiedliches. Doch alle setzten Freundlichkeit und Mitgefühl, Verständnis und Empathie klar als Gegensatz zu der verrohten, ja faschistoiden Sprache und Kultur der Maga-Welt.

Denn im Trumpozän ist es politisch korrekt, Leute mit bestimmter Nationalität oder Hautfarbe pauschal als Verbrecher und Vergewaltiger zu bezeichnen, Andersgesinnte als Schwachsinnige, Sans-Papiers als Ungeziefer. Der Präsident der Vereinigten Staaten kann ungestraft behaupten, Transsexuelle seien «krank» und «gestört». Oder Immigrant:innen würden «das Blut unseres Landes vergiften». Seine Anhänger:innen jubeln ihm immer noch zu.

Trumps traumatisierte Kritiker:innen hingegen haben Kindness als eine heilsame Gegenstrategie entdeckt. Die Art, wie wir über andere reden, ist für uns in der Opposition so etwas wie ein Erkennungszeichen geworden. Es geht ja nicht bloss um die exakte Wortwahl, sondern darum, ob sich jemand die Mühe macht, dem Gegenüber genau zuzuhören. Ob wir die Geduld aufbringen, komplexe Probleme und verschlungene Lebensläufe zu verstehen. Ob wir Ambivalenz und Andersartigkeit zulassen können.

Ich behaupte, dass diese Art Gschpüri politisch ist, weil sie in einer individualisierten Gesellschaft Zugehörigkeit und Zusammenhalt schaffen und stärken kann. Um der Maga-Welt die Stirn zu bieten, braucht es mehr als eine Anti-Trump-Haltung. Das sollte die träge Parteiführung der Demokrat:innen endlich begreifen. Es braucht eine Vision, für die sich eine Mehrheit der Bevölkerung begeistern kann.

Die klassenkämpferische «Fight Oligarchy Tour» von Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders macht einen Anfang. In New York hat der demokratische Sozialist Zohran Mamdani mit seiner Vision einer «affordable city», einer erschwinglichen Stadt, Ende Juni die Vorwahlen für das Bürgermeisteramt gewonnen. Und das, obwohl das übervorsichtige demokratische Parteiestablishment die Kandidatur des indisch-amerikanischen Muslims und Palästinaaktivisten zu sabotieren suchte. Die USA links der Mitte hat die richtige Sprache für eine neue starke Bürgerrechtsbewegung noch nicht gefunden. Aber wir reden wieder mehr und auch etwas freundlicher miteinander.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags «Fussnoten aus dem Trumpozän» von Lotta Suter. Die Mitbegründerin sowie langjährige Redaktorin und Auslandskorrespondentin der WOZ lebt seit vielen Jahren im US-Bundesstaat Vermont. Von dieser ländlichen Peripherie aus schreibt sie bis Mitte Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Politik in Washington lauscht.