US-Grossstädte: Politik der Angst

Mike Davis spricht im WOZ-Interview von einer systematischen Vernachlässigung der Grossstädte durch diverse US-Regierungen. Beim Wiederaufbau von New Orleans könnte die arme Bevölkerung ausgeschlossen bleiben.

Inwiefern ist die Katastrophe der letzten Tage symptomatisch?
Vor einem Jahr wurde New Orleans vor dem Hurrikan Ivan evakuiert. Schon damals wurde die gesamte arme Bevölkerung der Stadt, die Alten, die ohne Auto und viele Schwarze, völlig allein gelassen. Das zeigt, dass dieses Verhalten typisch ist in der amerikanischen Politik. Es ist ein Unglück, das man seit Jahrzehnten voraussehen konnte.

Steckt dahinter Achtlosigkeit oder Absicht?
Es ist wie bei einer russischen Puppe. An erster Stelle steht die Vernachlässigung der Städte durch die Bundesregierung. Bush wurde in den Vorstädten und den Edge Cities, den Randstädten, gewählt. Die grossen Städte sind in der amerikanischen Politik zum Tabuthema geworden. Seit einer Generation wird nicht mehr in deren soziale und physische Infrastruktur investiert.
Zweitens hat New Orleans einen der höchsten Anteile an schwarzer Bevölkerung unter den US-amerikanischen Grossstädten – und sie ist eine der ärmsten. Drittens weigert sich die Bush-Regierung, für dringend notwendige öffentliche Einrichtungen zu zahlen, während sie Milliarden in die so genannte Homeland Security steckt. New Orleans ist seit Jahren berüchtigt, weil dort versucht wird, die arme schwarze Bevölkerung aus der Stadt zu vertreiben. Die Eliten, die über die Stadt herrschen, setzen sich zusammen aus der traditionell weissen Wirtschaftsschicht und einer kreolischen Politikerklasse. Das gemeinsame Ziel beider Gruppen ist es, New Orleans zu verbürgerlichen, ähnlich wie es in San Francisco geschehen ist.

Wie begann diese Vernachlässigung der Städte?
Präsident Richard Nixon begann damit, öffentliche Mittel aus den Städten in die Vorstädte umzuleiten. 1978, in der zweiten Hälfte von Jimmy Carters Amtszeit, stimmte der Kongress gegen viele Programme der Bundesregierung, die unter Kennedy und Johnson zur Unterstützung der Grossstädte eingerichtet worden waren. Zwei Jahre später kam Ronald Reagan an die Macht und kürzte die Mittel noch einmal radikal. Das ging Hand in Hand mit der Veränderung der amerikanischen Wählerschaft, die inzwischen mehrheitlich ausserhalb der Städte lebt. Und die Menschen dort wollen keinen Cent für die Städte ausgeben. Diese Ablehnung jeglichen Gemeinschaftssinns ist durch die Suburbanisierung Amerikas entstanden.

Gilt das auch für New Orleans mit seiner besonderen Geschichte?
In New Orleans kann man sehen, wie eine Politik der Angst funktioniert. Die Stadt hat eine hohe Kriminalitätsrate, die dazu benutzt wird, eine Politik der, wie manche sagen würden, ethnischen Säuberungen durchzusetzen. Dieselben Leute, die aus der Stadt vertrieben werden sollen, sind es nun, die den bewaffneten Nationalgarden gegenüberstehen. Der Bauplan der Stadt ist einzigartig, an den Boulevards stehen die prächtigen herrschaftlichen Häuser, gleich dahinter leben Schwarze in Hütten – wie früher, als vorne die weissen Sklavenhalter und dahinter die schwarzen Sklaven lebten. Diese Nähe wird als Problem empfunden, seit in den letzten zwanzig Jahren die Verbrechensrate von New Orleans selbst die von Washington oder Detroit übertrifft. Daneben sind die Attraktionen der Stadt gerade jene armen Viertel, die nun von den Eliten, den Bauunternehmern als Hindernis dabei gesehen werden, die Stadt in einen Themenpark zu verwandeln. Der Wiederaufbau wird die Gelegenheit sein, ihre Vision auf dramatische Weise zu realisieren.

Werden sich die alten Bewohner nicht dagegen wehren?
Viele der Häuser werden wohl zerstört werden. New Orleans war bereits in einem sehr schlechten Zustand, nur wenige wissen beispielsweise, dass Termiten bereits hunderte Millionen Dollar Schaden angerichtet haben. Viele der Menschen, die nun nach Houston oder Baton Rouge deportiert worden sind, werden niemals mehr in die Stadt zurückkommen. Die meisten von ihnen haben keine Versicherung, es sind mittellose Mieter, und das Angebot an Wohnungen wird sinken. Deshalb blieben auch so viele zurück: Sie folgten ihrem Instinkt und klammerten sich an die Stadt. Auch viele der am schwersten betroffenen Orte in Alabama und Mississippi sind mehrheitlich schwarz. Ich glaube, dass ein Ergebnis dieser Katastrophe eine neue Bürgerrechtsbewegung sein wird.

Wird sie sich bei der Mittelschicht Gehör verschaffen können?
Hier herrscht die frühviktorianische Illusion, dass es egal ist, wenn Städte ausser Kontrolle geraten. Das änderte sich im 19. Jahrhundert, als die Krankheiten aus den Slums in die noblen Vororte zogen. New Orleans ist auch ein Test dafür, was passieren wird, wenn wir eine Epidemie wie die Vogelgrippe erleben. Erst im Ernstfall werden die Vororte verstehen, dass man die Städte nicht einfach aufgeben kann. Noch funktioniert die amerikanische Politik nach entgegengesetzten Überlegungen: Statt die Probleme und ihre Ursachen zu beheben, errichtet man Barrieren und stellt möglichst viele Polizisten zwischen sich und die sozialen Probleme. Mittelschicht und Reiche verlassen die Städte in einem Ausmass, das mich überrascht, und dieser Rückzug aus den Städten, die selbst gewählte Ablösung von jeder zivilen urbanen Gemeinschaft vollzieht sich auf der ganzen Welt.

Wird es enden wie in John Carpenters Film «Escape from New York» (Die Klapperschlange), wo die Innenstädte zu abgeriegelten, bewachten Gefängnissen geworden sind?
Die Popkultur hat den Umriss der Entwicklung oft richtig erkannt. Aber hier ist die moralische Dimension entscheidend: Die Armen werden völlig allein gelassen angesichts von Naturkatastrophen, angesichts der Klimaveränderung. Es wurde bereits entschieden, diese Menschen nicht zu retten. Wenn das in einer Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten passieren kann, dann werden solche Entscheidungen bei den grossen Katastrophen der Zukunft auf geradezu apokalyptische Weise zunehmen – noch zu Lebzeiten unserer Kinder.

Wie sicher können Städte überhaupt sein angesichts solcher Ereignisse?
Wir merken, dass selbst die grössten, reichsten, fortschrittlichsten Städte sehr schnell zusammenbrechen können, man denke nur an den Eissturm in Montreal, die Hitzewelle in Auckland oder den Stromausfall in New York. Wir erkennen, dass unsere tägliche Existenz von einer monolithischen Infrastruktur abhängig ist – und diese ist angreifbar. Wir erkennen, wie schnell das gesellschaftliche Netz sich angesichts einer Katastrophe innerhalb weniger Tage völlig auflöst. Also müssen wir uns mit urbaner Ökologie auseinander setzen. Städte sind die Lösung für den weltweiten ökologischen Notstand, die beste Art für nachhaltiges, effizientes Zusammenleben. Doch nur Städte, die diese Fähigkeiten erkennen, sind wirklich urban – und das Problem ist, dass die meisten amerikanischen Städte eben nicht urban sind.

Also gemischte Baustrukturen und mehr soziale Infrastruktur?
Die einzigartige Gabe der Städte besteht darin, eine Alternative für individuellen Reichtum und Konsum zu bieten. Städte sind jene Orte, in denen die Menschheit überleben kann; doch wir sehen nun, dass die Art von Städten, die wir geschaffen haben, extrem verletzlich ist. Die Ereignisse in New Orleans waren nicht unvermeidbar – dies war eine der am wenigsten natürlichen Naturkatastrophen in der Geschichte Amerikas.