US-Wahlen: Der Wahnsinn fängt gerade an

Es sollte die Ankunft einer neuen Generation werden, der Tag, an dem The Youth Vote Amerika zurückerobert. Es war eine Fata Morgana. Einsteigen und festhalten – eine Achterbahnfahrt vor und nach der Wahl.

Der erste Looping ist ein schriller Schauder. Halloween-Nacht, Sonntag, 31. Oktober. Ich sitze auf New Yorks lebendigstem Platz, dem Union Square, nachdem ich weg vom ziellosen Trubel der Halloween-Parade über die siebte Avenue gerannt bin. Zwei Engel springen, Skateboards an den Füssen und weisse Flügel auf dem Rücken, über die Treppen. Gegen den Sound der Stadt schreit sich einer die Angst aus dem Kopf: «Bush macht aus unserem Land eine Diktatur.» Auf dem Union Square darf jeder sagen, was er denkt. Es stehen knapp hundert Augen um ihn. Hier in New York kocht wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl eine Stimmung der Furcht.

Am nächsten Morgen flimmert NBC: William Rehnquist, höchster Richter am Supreme Court, ist ernsthafter an Krebs erkrankt als zunächst angenommen. Der nächste Präsident ernennt drei oder vier der acht Richter neu, auf Lebenszeit. Wählt er Jüngere, entscheiden sie durch Jahrzehnte über grundsätzliche Bürgerrechte. Wird Abtreibung in den USA wieder verboten, in die Verfassung eine Ächtung gleichgeschlechtlicher Ehen aufgenommen? Das höchste Gericht hat die Macht, das freie Land in einen geschlossenen neokonservativen Staat zu wandeln. Doch an diesem Montagmorgen, als ich von New York nach Washington reise, scheint das eine ferne Realität. Alles deutet auf John F. Kerry als nächsten Präsidenten.

«Vote or Die!»

Zwanzig Millionen junge WählerInnen sollen registriert sein. MTV blendet ein riesiges Vote-Tomorrow-Signet ins Programm, das gerade die Doku-Soap «The Real World» zeigt. Zwei hübsche Männer küssen sich dort minutenlang. Das Musikmagazin «Rolling Stone» druckt Kerry auf den Titel. Überall Plakate mit Popstars und SchauspielerInnen wie P. Diddy, Mary J. Blige oder Leonardo di Caprio in T-Shirts mit «Vote or Die!»-Aufdruck. Statt War Against Terrorism hat CNN jetzt The Youth Vote entdeckt und berichtet euphorisch über die repolitisierte Jugendbewegung, gross und entschlossen wie zuletzt in den Siebzigern soll sie sein. Wer kann, lässt sich in einem Swing-State für die Wahl registrieren, in Ohio allein haben sich 150 000 Menschen aus New York angemeldet. Auch das konstante Patt zwischen Bush und Kerry in den Meinungsumfragen erklärt sich leicht aus dem offenen Geheimnis, dass die Umfrageinstitute keine Handys anrufen und darum die jungen WählerInnen nicht erreichen. Der zweite Looping gehört dem Atem der gespannten Erwartung.

Grösstes Thema jetzt: Zählen all diese Stimmen auch? Die Wahl vor vier Jahren nennen Michael Moore und viele andere nach wie vor «die gestohlene Wahl». Al Gore hatte mehr Stimmen, er habe zu früh aufgegeben. Es gibt Unruhe um die neuen elektronischen Wahlmaschinen. Acht Prozent aller WählerInnen stimmen an Geräten der Diebold Inc. ab, deren Vorstandsvorsitzender Wally O’Dell war 2000 Vorsitzender der Bush-for-President-Vereinigung in Ohio. Im Internet finden sich Anleitungen, wie sich die Software hacken lässt.

Bei der OSZE

Meine Expertin für alle Fragen des Wahlsystems ist ein bekanntes Gesicht. Im Erdgeschossbüro der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, im Washingtoner Stadtteil Georgetown sitzt Rita Süssmuth, bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. Sie lächelt, trägt eine rosa Bluse unter der braunen Lederjacke und ist fein konzentriert, sobald das Tonband läuft. Sie ist auf einer schwierigen Mission, denn trotz offizieller Einladung des Aussenministeriums wird die Wahlbeobachtung der OSZE im «Mutterland der Demokratie» von manchen als «ungewöhnlich oder, um es krasser zu sagen, unangemessen betrachtet», so Süssmuth. Mehrere Bundesstaaten haben eine Beobachtung untersagt. «Wir müssen sehr genau auf unsere Glaubwürdigkeit als unabhängige Institution achten», sagt Süssmuth. Eine Expertengruppe verfolgt die Vorbereitungen seit zwei Monaten, am Wahltag sind 96 BeobachterInnen aus 34 Nationen im ganzen Land unterwegs, einige von ihnen begleite ich am Wahltag.

Einer davon ist Stephen Nash, früher britischer Botschafter in Albanien und Jordanien. «Dann lasst uns mal einen Blick werfen», sagt er und steigt mit Ilze Milta von der litauischen Botschaft aus dem Wagen. Es ist Dienstag früh, 2. November, Wahltag, Entscheidung zwischen Bush und Kerry, zwischen frommem Commander-in-Chief und rationalem Massachusetts-Milliardär. Beide waren in Yale Mitglieder der Studentenloge Skull & Bones. Beide kommen aus einer der etwa zweihundert Machtfamilien, die zur Klasse der Geldaristokratie gehören. Kaum eine entscheidende Position in den USA wird ohne diesen Zirkel erreicht.

Vor der Türe der Lutheran Church in einem Vorort von Baltimore, Maryland, steht eine lange Warteschlange. Anderthalb Stunden würde es dauern, hätte man ihnen gesagt, erklärt ein dunkelhäutiger junger Mann am Ende der Schlange. Kinder schlafen auf dem Arm ihrer Mütter.

Im Gemeindesaal hängen Bilder von Rügen und Heidelberg an der Wand. In zwei Reihen stehen die AVE Advantage, elektronische Wahlmaschinen. Veratmete Luft. Nash findet die beiden zuständigen Electoral Officer. Der republikanische Vertreter Malcom Mason hat noch nie von der OSZE gehört, nach einem Blick auf den Ausweis ist er aber zur Auskunft bereit. «Das ist schliesslich Amerika», sagt er. Mason ist über siebzig und ausser Atem. «So viele Wähler hatten wir hier noch nie.» Mason antwortet auf den Fragebogen von Nash. Probleme mit den Maschinen: keine. Bevor der Speicher am Abend gelöscht wird, werden drei Kopien ausgedruckt. Sie zeigen das Endergebnis, nicht die einzelne Stimme. Wer der Elektronik nicht traut, darf auf Papier wählen – kaum jemand tut das. Wahlwerbung ist nur vor der Türe erlaubt, in vierzig Fuss Abstand. ParteisoldatInnen, die einzelne WählerInnen herausfordern, die verdächtigt werden, nicht legal zu wählen, sind nicht anwesend. Wer neu ist, muss einen Ausweis zeigen. Nash notiert auf seinem Fragebogen, spricht mit den wartenden WählerInnen. Keine Klagen. Er trinkt einen Kaffee und sagt: «So weit alles in Ordnung.» Das ist der Eindruck des Morgens. Auch in anderen Wahllokalen. Überall lange Schlangen, viele junge Gesichter.

Die beliebteste Floskel

«Sollte Bush gewinnen, wandere ich an Weihnachten aus, vielleicht nach Curaçao», sagt David Scondras, ein Campaigner für Kerry, den ich am Mittag im Zug zurück nach Washington treffe. «Auswandern», die beliebteste Floskel der letzten Wochen. Doch so weit soll es nicht kommen, Scondras ist bester Laune. Zum ersten Mal fällt der Begriff der Exit Polls, auf Befragung von Wählern basierenden Prognosen. Ein Freund hat ihn gerade angerufen, bis zu zehn Prozent Vorsprung für Kerry. In Washington D.C. ist der Sommer ausgebrochen, die Sonne strahlt warm vom Himmel, zwei Mädchen tragen ihr Kerry-Edwards-T-Shirt bauchnabelfrei.

Rita Süssmuth hat für den Nachmittag ein Taxi gemietet. Einen antiken Lincoln, keine Klimaanlage, braune Ledersitze. Ihr Tross sind eine Assistentin und zwei Journalisten. Fahrer Eric aus Nigeria liest an der Ampel in der Bibel. Es wird eine lange Tour durch zehn Wahllokale in Fairfax County, Virginia. Die Schlangen sind jetzt etwas kürzer, der Wahltag ist in den USA ein normaler Arbeitstag. Poll Watcher der Parteien vergleichen Listen, wer bis vier nicht gewählt hat und registriert ist, bekommt einen Anruf. «Lebst du noch? Brauchst du ein Auto?», fragt Demokratin Leonora Marquis in Alexandria Nichtanwesende übers Telefon. «Keine Unregelmässigkeiten bisher», stellt Rita Süssmuth fest, sie arbeitet den Fragebogen schnell durch. Sie spricht mit den WahlhelferInnen, erklärt die OSZE, erschrickt etwas, als einer sehr übergewichtigen Wählerin in der Schlange schnell ein Stuhl untergeschoben wird. Danach stellt sie fest: «Toter Punkt.» Seit einer Woche ist sie hier, schläft schlecht. Sie ist 67, seit zwei Jahren nicht mehr im Bundestag, aber: «Wenn man nicht radikal ganz mit der Arbeit aufhören möchte, wird sie nicht weniger.» Wir trinken Starbucks-Kaffee auf dem Parkplatz eines riesigen Industriegebiets. Der Sniper, der Heckenschütze von Washington, hat hier sein letztes Opfer erschossen. Zum ersten Mal ist ein Bush-T-Shirt zu sehen. Die Trägerin hat gerade ihren Honda Civic in einen Mercury geknallt.

Es ist dunkel. Dienstagabend, kurz vor neun. Ich liege auf dem geblümten Bett im Comfort-Inn-Motel. Einziger geschmackvoller Gegenstand in diesem Zimmer: der Fernseher, gross wie eine halbe Tischtennisplatte. Ich zappe durch die Kanäle, CBS ist am schnellsten. Die Staaten im Osten sind farbig. Ich klebe einen roten Esel (Republikaner) auf Virginia, einen blauen Esel (Demokraten) auf Maryland in die Wahlkarte. Sie wurde als Zeitungsbeilage von CNN verschenkt. Vielleicht sollten sich die Demokraten bei Gelegenheit ein optimistischeres «Partyanimal» suchen. Es beginnt das grosse Warten. Gestreckte Zeit. Schmetterlingsspannung. Anlauf für den finalen Schrauben-Looping.

Nach Mitternacht. Augenflimmern, klar ist: Selbst wenn Kerry noch mit viel Glück Präsident wird, von Eroberung keine Spur. Bisher haben keine Staaten anders gewählt als vor vier Jahren. Florida für Bush. Die Exit Polls und zehn Prozent Vorsprung für Kerry waren eine Fata Morgana. 2000 war kein Unfall, kein Wachrütteln. Die jungen WählerInnen haben keinesfalls so eindeutig für die Demokraten gestimmt. MTV – noch immer beseelt von der The-Youth-Vote-Kampagne – segelt schon in frischem Wind, schaltet nach Washington ins Ronald-Reagan-Center zur Wahlparty der Republikaner. Reporterin Su Chin Pak feiert Bush als American Pop Idol, nennt ihn: Rockstar und grossen Führer. Dann Eminem. Nicht «Mosh», sondern das zweite aktuelle Video: «Just Lose It». Es zeigt Michael Jackson als Unmenschen. Auf NBC: Bushs Redenschreiberin Karen Hughes schminkt die Freude rote Backen. Um 1.01 bollert FOX nach vorne, Ohio für Bush. Discovery Channel zeigt «Monster Nation». Brennende Raketentrucks rasen 350 Meilen schnell mit einem Flugzeug um die Wette. Die Kiefer der ZuschauerInnen zittern vor Erregung. Der Fahrer ist hart, beschreibt den Kick seines Monsters im Interview: «Mass power, mass destruction.» Ich habe fast vergessen, dass die USA ein schrecklich weites Land sind. Auf dem Wetterkanal Jazzmusik, in Texas schneit es.

Rock ’n’ Roll gegen Roll Back

Halb drei Uhr morgens. Washington in der Nacht sieht aus wie ein gepflegter englischer Garten. Ich jogge durch die leere Strasse Richtung Innenstadt. Im Kopf: Bush liegt auch bei der absoluten Zahl der Stimmen vorne. Was passiert, ist kein Getrickse, die Wahlen sind, das schreibt später auch die OSZE in ihrem Bericht, zwar verbesserungswürdig. Aber Fehler statt Betrug, das ist das Wort dazu. 3,5 Millionen Stimmen mehr für die Republikaner sind eindeutig. Bush ist gewählt, nicht ernannt. Der Anteil der 18- bis 29-jährigen WählerInnen beträgt genau wie vor vier Jahren 17 Prozent. Weit weniger als erwartet, 54 Prozent davon, haben für Kerry gestimmt. Vor dem Ronald-Reagan-Center stehen sie sich gegenüber: Rock ’n’ Roll gegen Roll Back. An der Ecke stehen die Kerryites. Zwei Dutzend, keiner über 25. Schräg rasierte Frisuren, Kapuzenpullover, T-Shirts, die Hautfarben unterschiedlich getönt. Sie haben Kerzen angezündet. Rufen: «No more Bush, no more fear, out of here.» Polizisten bewachen die Gruppe. Um sie stehen die Bushies. Keiner über 25, klassische Frisuren, alle weiss. Tommy-Hilfiger-Polos, die Frauen atmen schwer unter dicker Schminke. Glücklich aufgepeitschtes Geschrei: «Four more years.» Ein Mädchen steigt in ein Taxi und hinterlässt einen letzten Gruss: «Kerry is the son of a bitch.» Ihr Freund ergänzt: «We put you all in jail.» «Fascists», schreit es zurück. Dagegen: «Beat the shit out of them.» Ein letzter Looping, der Wahnsinn fängt gerade erst an.