US-Wahlen: Die verdammte Moral
Die DemokratInnen stehen nach der Niederlage vor einer Depression oder einem Neuanfang. Von den RepublikanerInnen könnten sie dabei einiges lernen.
John F. Kerry hat die Wahl verloren, ohne es bislang (bis Redaktionsschluss) einzugestehen. Die Chancen sind sehr gering, dass der Senator aus Massachusetts 44. Präsident der USA wird. Die verlängerte Stimmenauszählung im Bundesstaat Ohio wird die Niederlage kaum noch abwenden. Das Eingeständnis scheint somit nur noch eine Frage der Zeit, Würde und Ehre.
Es hat also alles nichts geholfen. Rockstars wie Bruce Springsteen, die für Kerry auftraten, konnten offenbar junge Leute nicht ausreichend ansprechen. Die in der US-Geschichte einmalige Mobilisierung der WählerInnen erreichte die Latinos und AfroamerikanerInnen nicht. Auch die gesammelten Spenden in Rekordhöhe – die Demokraten kassierten am Ende sogar mehr Geld als die Republikaner – halfen nicht. Und all die Orakel vom nahen Sieg, die durch den Gewinn der Baseballmannschaft Red Sox aus Boston ausgelöst wurden, bewahrheiteten sich nicht. Das Image des «Comeback-Kid», des im Endspurt Siegreichen, das Kerry nach seinem unerwarteten Erfolg bei den Vorwahlen im vergangenen Januar in Iowa anhaftete, ist plötzlich verblasst. Die Wahl 2004 hat erneut bewiesen, dass kein Senator, und schon gar keiner aus dem liberalen Neuengland, im derzeitigen politischen Klima das Weisse Haus erobern kann.
Lag es an der Person John Kerry, die am Ende, trotz gewonnener TV-Duelle gegen Bush, viele AmerikanerInnen nicht vom Hocker riss? Hat er Fehler im Wahlkampf gemacht? Wurden die Situation im Land und die Themen, die der Bevölkerung auf den Nägeln brennen, falsch eingeschätzt? Diese Fragen werden Parteistrategen und Expertinnen die nächsten Wochen zu beantworten versuchen. Einige erste Lektionen zeichnen sich jedoch ab. Demnach ist es Kerry nicht gelungen, die eigene Basis – darunter vor allem die 18- bis 29-Jährigen, die Schwarzen, Latinos und Frauen – von sich ausreichend zu überzeugen. Die grosse Enttäuschung ist, dass viel weniger JungwählerInnen als erhofft zu den Wahlurnen gingen. Die Millionen neuer Wählerregistrierungen hatten auf eine andere Entwicklung schliessen lassen.
Homoehen und Abtreibung
Erste Untersuchungen zu den Topthemen der WählerInnen verblüffen die Meinungsmacher. Demnach standen Moralfragen, Wirtschaft und der Antiterrorkampf zuoberst auf der Prioritätenliste. Die BürgerInnen entschieden somit anhand der von den Republikanern erfolgreich besetzten kontroversen Themen wie Homoehe und Abtreibung.
Anders als Bush, dem es in den vergangenen vier Jahren meisterhaft gelang, die RepublikanerInnen zu vereinen, rief Kerry mit seinen Politikentwürfen wesentlich mehr Widerspruch in den eigenen Reihen hervor. In zentralen Fragen, wie zum Beispiel dem Irakkrieg, blieben die DemokratInnen weit mehr gespalten als die RepublikanerInnen. Dem liegt ein strukturelles Problem zugrunde. Die DemokratInnen sind eine oftmals zersplitterte und schlecht organisierte Sammelbewegung, während sich die homogeneren RepublikanerInnen einer quasimilitärischen Disziplin unterwerfen. Die Demokraten präsentieren sich überdies als die weniger risikofreudige und visionäre Partei. Mit dem Ziel, die Errungenschaften der Sozialstaatsprogramme des «New Deal» und der «Great Society» zu bewahren, verteidigen sie zum Teil überholte Programme aus dem Industriezeitalter, die den gewandelten Verhältnissen einer Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr Rechnung tragen.
Bei Kerry, und das verleiht seiner Niederlage eine gewisse Ironie, passten viele der alten demokratischen Markenzeichen nicht mehr. Er wollte den Haushalt ausgleichen und dazu, wenn nötig, die staatlichen Ausgaben kürzen, er sprach über seine Religion und ging demonstrativ auf die Jagd, er hatte enge Verbindungen zur Wallstreet und stand aussenpolitisch der alten republikanisch-realpolitischen Schule eines Colin Powell oder James Baker nahe. Klassisch liberale Haltungen waren dies nicht.
Kühle Strategie gefragt
Den DemokratInnen blüht nach der klaren Niederlage – Bush dürfte mit einem Abstand von rund drei Millionen WählerInnen-Stimmen gewinnen, Al Gore hatte im November 2000 lediglich eine halbe Million Stimmen Vorsprung – nun eine Ära politischer Depression, es sei denn, sie ringen sich zu einem Neuanfang durch. Kerrys Zögern, seine Niederlage einzugestehen, gleicht einer Verzweiflungstat, diese bittere Tatsache noch nicht anerkennen zu wollen.
Wollen die DemokratInnen wieder gewinnen, müssen sie bei den RepublikanerInnen in die Lehre gehen. Diese bauten sich seit Mitte der sechziger Jahre eine schlagkräftige, gut organisierte, in Gesellschaft und Medien vernetzte Partei auf, deren Fühler in die Kirchen reichen und die sich geschickt konservativer Radiotalkshows und einflussreicher Denkfabriken zu bedienen wusste. Die DemokratInnen hingegen liessen erst nach der Wahlschlappe 2000 Ansätze in diese Richtung erkennen. Die Frage momentan ist, welche Instinkte bei den DemokratInnen zuerst zum Zug kommen. Gut möglich, dass sie, auf der Suche nach Schuldigen, sich erst einmal zerfleischen und ins Abseits manövrieren. Ohnehin wird es schwer, der dominanten Macht der RepublikanerInnen in Kongress und Regierung etwas entgegenzusetzen. Vielleicht aber obsiegen kühle StrategInnen, die ihrer Partei eine Rosskur verordnen und einen systematischen Neuaufbau einleiten.
Da stellt sich jedoch das nächste Problem: frische Gesichter. Ob John Edwards, der seinen Senatssitz aufgegeben hat, weiter eine entscheidende Rolle spielen kann, ist unklar. Die Hoffnungen ruhen damit vielleicht auf Hillary Clinton und Barack Obama, dem charismatischen Shootingstar aus Illinois und einzigen schwarzen Senator. Beide wurden in den politischen Hinterzimmern auch schon als Dreamteam der Demokraten für 2008 gehandelt.