Verkehrspolitik: Ein Stich durchs Basler Herz

Die Agglomeration Basel umfasst drei Nationen und gut eine halbe Million EinwohnerInnen. Wie wird in diesem konzentrierten Stück Europa geplant und gebaut?

Die einstigen Zentren des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens sehen sich heute mit einem rapiden Bedeutungsschwund konfrontiert. Waren die Kernstädte noch bis in die sechziger Jahre von wachsenden Bevölkerungszahlen und wirtschaftlicher Prosperität geprägt, stehen seither rückgängige Bevölkerungszahlen, sinkende Detailhandelsumsätze und das Sterben alteingesessener Geschäfte im Vordergrund. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass mit dem Exodus der städtischen Wohnbevölkerung ins traute Eigenheim auf dem Land auch neue Konsumgewohnheiten verbunden sind. Kühlschrank und Automobil als technische Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machten es erst möglich, nur einmal die Woche, dafür aber im grossen Massstab einzukaufen. Das Einkaufszentrum auf der grünen Wiese – ein riesiger Parkplatz mit Verkauf – war demnach nur die logische Folge einer Entwicklung völlig neuer Konsumgewohnheiten und eine Verlagerung der Bedeutung der Zentren in die Peripherie. So klar die Symptome der kränkelnden Innenstädte zum Vorschein kommen, so uneinig ist man sich über die Ursachen und Behandlungsmethoden. Während der betroffene Detailhandel die Krise vor allem im Fehlen von Parkplätzen sieht und entsprechend mehr Parkflächen für die Innenstädte fordert, setzt die seit Jahren herrschende und von links-grünen und umweltbewussten bürgerlichen Kreisen gemeinsam getragene Politik auf eine konsequente Förderung des öffentlichen Verkehrs.

Ein Blick auf die Stadtentwicklungsstrategien der Schweizer Städte zeigt überall ein ähnliches Bild: Die Verbesserung des bestehenden öffentlichen Nahverkehrsnetzes und dessen Verknüpfung mit den SBB bei gleichzeitiger Minimierung des Autoverkehrs durch ausgedehnte Fussgängerzonen steht im Vordergrund. In drei Schweizer Städten gehört auch ein neues S-Bahn-Netz zu den wichtigen Eckpfeilern der Stadtentwicklungspolitik. Neben Zürich, das sein S-Bahn-Konzept seit Jahren schon Stück für Stück mit enormem Erfolg umsetzt, zeichnen sich nun auch in Genf und Basel die ersten sichtbaren Schritte für die Realisierung einer S-Bahn ab.

Dem Stadtkanton Basel mit nur gerade 190 000 EinwohnerInnen ist es dank erfolgreicher grenzüberschreitender Zusammenarbeit gelungen, die politischen Fundamente für die Realisierung einer Regio-S-Bahn zu legen. Immerhin zählt die trinationale Agglomeration Basel rund 600 000 bis 700 000 EinwohnerInnen und verteilt sich auf drei Länder und vier Kantone. So haben sich die französischen, deutschen und Schweizer Partnergemeinden zunächst bilateral und seit zwei Jahren auch im Rahmen eines gemeinsam unterzeichneten Konzepts «Trinationale Agglomeration Basel» darauf geeinigt, ein Regio-S-Bahn-Liniennetz zu realisieren, das die Agglomeration über ihre Landesgrenzen hinaus nicht nur baulich und «automobil», sondern auch mit dem öffentlichen Verkehr zu einem vernetzten urbanen System zusammenwachsen lässt. Seit 1997 wird Teilstrecke um Teilstrecke in Betrieb genommen. Mit dem weiteren systematischen Ausbau der heute bestehenden Bahnlinien, der Beschaffung von Rollmaterial und dem Bau von neuen S-Bahnhöfen an den wichtigen Entwicklungsstandorten dürfte Basel in den kommenden Jahren zu einer trinationalen Agglomeration mit rund einer halben Million EinwohnerInnen zusammenwachsen und damit ein konzentriertes Stück Europa bilden.

Von Bahnhof zu Bahnhof

Eine ganz andere Geschichte ist das so genannte «Herzstück», ein milliardenschwerer S-Bahn-Tunnel zwischen den beiden Bahnhöfen SBB und Badischem Bahnhof. Lanciert wurde die Idee 1999 von der Interessengemeinschaft öffentlicher Verkehr Nordwestschweiz (IGÖV). Tom Schneider von der IGÖV plädierte in einem Forumsartikel in der «Basler Zeitung» vom 28. November 2000 für eine zusätzliche Förderung des öffentlichen Verkehrs in der Innenstadt: «In den vergangenen Jahrzehnten wurden erfolgreich die Vorort-Tramlinien von den Stadträndern in die Innerstadt verlängert. Könnte nicht auch die Regio-S-Bahn durch einen Tunnel zum Marktplatz fahren?» Laut Schneider würde damit nicht nur das Parkplatzproblem entschärft und die darbenden Basler Innenstadtgeschäfte wieder zu einer ernsthaften Konkurrenz zum Shoppingcenter auf der grünen Wiese. Wenigstens implizit stellt der Vorschlag natürlich auch eine satte Finanzspritze für das Baugewerbe in Aussicht. Die Chancen stehen gut, dass der Bund sich im Rahmen des Agglomerationsprogramms finanziell am Vorhaben beteiligen wird. Angesichts der offensichtlichen Tatsache, dass dem bestehenden Bahnliniennetz für eine S-Bahn ein zusätzlicher Rheinübergang östlich der Mittleren Rheinbrücke fehlt, erstaunt es nicht, dass die Regierung Ende 2001 treu dem Anliegen der IGÖV folgt und beschliesst, die Idee eines Herzstücks partnerschaftlich mit den SBB und dem Kanton Baselland weiterzuverfolgen. Nach ersten Vorstudien und Modelluntersuchungen sollen bis in diesem Frühsommer die detaillierten Zweckmässigkeitsuntersuchungen zu verschiedenen Varianten vorliegen. Um die Frist für die Eingabe des Agglomerationsprogramms des Bundes nicht zu verpassen, muss der Kanton Basel-Stadt noch dieses Jahr entscheiden, ob das «Herzstück» einen Platz im Agglomerationsprogramm finden soll oder nicht. Der Haken an der Geschichte ist, dass jede der jetzt geprüften Varianten eine rund 300 Meter lange und in mindestens 25 Metern Tiefe liegende Haltestelle beim Marktplatz oder in unmittelbarer Nähe zu diesem vorsieht. Die unbestrittene Notwendigkeit eines zweiten Rheinübergangs wird somit direkt an die Realisierung des «Herzstücks» gekoppelt. Doch bringt das Vorhaben tatsächlich den erwünschten Effekt, die Innenstadt in ihrer Bedeutung als kulturelles, wirtschaftliches und politisches Zentrum zu erhalten oder gar auszubauen?

Basel bemüht sich in den letzten Jahren stark um die Förderung des Fussgängerverkehrs. Seit Jahren versucht der Kanton gegen den Widerstand der Gewerbeorganisationen Stück für Stück das so genannte «Fussgänger-Y» zu vervollständigen, eine durchgehende Fussgängerzone von Aeschenplatz und Heuwaage zum Marktplatz und dann über die Mittlere Rheinbrücke bis zum neuen Messeturm. Die Einschränkungen des motorisierten Individualverkehrs kompensiert das Baudepartement, indem es heute jede nur erdenkliche Tramlinie in die Innenstadt führt. Zusammen mit den immer länger werdenden Tramzügen und der topografisch bedingten Tatsache eines Nadelöhrs in der Talsohle des Birsig mag das herrschende Chaos in den Stosszeiten wohl niemand erstaunen. Doch anstatt dass sich das Konsumangebot vervielfältigt, verdünnt es sich immer mehr in global agierende Fastfood-Ketten, Importparfümerien, Bekleidungs- und Geschenkläden mit dem ewig gleichen Angebot. Konzerne wie McDonald’s, PizzaHut oder H&M folgen bei ihrer Standortwahl einem weit weniger differenzierten Kriterienraster als ein lokales Geschäft. International agierende Detailhandels- und Foodketten verzerren den Markt, indem sie sich im Kampf um globale Märkte um «jeden Preis» einen Standort an den vermeintlich besten Lagen erkaufen. Verdrängt werden diejenigen Geschäfte, von denen ein Zentrum seine spezifische Qualität bezieht. Eine einfache Schraube zu kaufen, ist inzwischen mit einer Fahrt in den Baumarkt am Rand der Stadt verbunden. Detailhandelsumsätze gehen an die Einkaufszentren in der Peripherie verloren. Das liegt nicht nur an den Parkplätzen. Ein Einkaufsbummel in Basels Innenstadt gleicht zunehmend der Wanderung durch den Einheitsbrei der grossen Einkaufszentren. Die ewig gleichen Marken in ewig gleichen Geschäften, die sich allmählich wie ein Ei dem anderen gleichen und ihre Produkte inzwischen so billig anpreisen wie das Einkaufszentrum.

Ibiza im Stadtzentrum

Auch kulturell ist es in der Basler Innenstadt nicht zum Besten bestellt. Abends in den Strassen macht sich Ibiza breit. Mit jedem Stück Fussgängerzone kommt ein Stück Ibiza hinzu. Und Ibiza beherrscht auch die Kultur, nicht nur bei den Kinos und Clubs. Kulturelle Grossanlässe – von Museumsnacht zum Jugendkulturfestival – folgen dem Muster der Massenevents. Die sozial verankerte städtische Kultur hat sich längst in die Aussenquartiere zurückgezogen oder ist ganz verschwunden.

Ob mit einem S-Bahn-Anschluss alles besser wird? Oder bringt ein grösseres Einzugsgebiet nicht nur die versprochenen KundInnen ins Zentrum, sondern auch die Probleme ins Rampenlicht der City? Der wirtschaftliche und soziale Druck auf das Zentrum im Sinne der bereits erwähnten Entwicklungstrends zu billigen und eindimensionalen Angeboten droht sich mit dem «Herzstück» zu vergrössern. Abschreckendes Beispiel einer solchen Entwicklung ist Châtelet Les Halles in Paris, wo mit der Realisierung des grossen RER-Knotens sich nicht in erster Linie die guten KundInnen einfanden, sondern vor allem auch die Jugendbanden aus der Banlieue. Sie machten den gesamten unterirdischen Einkaufskomplex so unsicher, dass die Ordnung nur noch mit massivster Polizeipräsenz aufrechterhalten werden konnte. Und es stellt sich die Frage, wie viel Zeit tatsächlich gewonnen wird, wenn wir den Weg mitkalkulieren, die ein S-Bahn-Kunde braucht, um aus einer 300 Meter langen und in 25 Metern Tiefe liegenden S-Bahn-Station ans Tageslicht zu steigen.

Die einzige plausible und für die Entwicklung Basels nachhaltige Teilstrecke des «Herzstücks» ist der so genannte «Nordbogen», eine rund drei Kilometer lange Verbindung zwischen Badischem Bahnhof und Bahnhof St. Johann durch die Industriezone. Sie schliesst das bestehende Liniennetz zu einem Ring und bedient gleich drei grosse städtebauliche Entwicklungsgebiete. Da ist das Quartier St. Johann, wo heute schon eine S-Bahn-Haltestelle darauf wartet, dass das letzte Teilstück der unterirdischen Stadtautobahn Nordtangente realisiert ist und der heutige Bauplatz für eine städtebauliche Entwicklung freigegeben wird. Dem schliesst sich der Novartis-Campus des Wissens an, ein ambitioniertes Projekt des Chemiemultis für ein Corporate-Image-Center der Life-Science-Industrie, das mit einer S-Bahn-Station adäquat bedient wäre. Profitieren würde schliesslich auch das auf dem ehemaligen Güterbahnhof der Deutschen Bahn im Kleinbasel geplante Erlenmattquartier. Der Startschuss für die Realisierung soll noch dieses Jahr durch die Basler Legislative erfolgen.

Ohne Vision

Doch das «Herzstück» durch die Altstadt bleibt ohne Vision und Vorstellung davon, was die Basler Innenstadt eigentlich sein könnte. Unter welchen weit komplexeren Bedingungen könnte ein historischer Kern auch in Zukunft noch konkurrenzfähig bleiben? Sollen die Innenstadtgeschäfte gegenüber den Einkaufszentren in der Peripherie standhalten, so braucht es wohl weniger eine S-Bahn-Haltestelle als ein entsprechend interessanteres Angebot. Es braucht vor allem eine Idee, wie die Benutzer und Benutzerinnen des öffentlichen Verkehrs mehr einkaufen können, als ihre Hände zu tragen vermögen. Und schliesslich bleibt die Frage, ob es für den engeren Cityverkehr nicht andere Lösungen gäbe als das heutige Tram.

Der öffentliche Verkehr hat sich im 20. Jahrhundert im Vergleich zum Automobil nur wenig entwickelt. Eine Kultur der Innovation besteht kaum. Einen Schritt hat das Nationalforschungsprogramm «Stadt und Verkehr» unter dem Titel «Mobilitätsmanagement» gemacht – ein verkehrsmittelübergreifendes, nachfrageorientiertes Verkehrskonzept. Wo aber bleiben diese Überlegungen bei der Basler Planung des Agglomerationsverkehrs? Lassen sich 1,5 Milliarden Franken andernorts nicht effektiver investieren, zum Beispiel in ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrssystem auf dem Rhein? Oder würde man nicht besser eine S-Bahn-Linie dem Kleinbasler Rheinufer entlangführen und damit eine Entwicklung der heute weitgehend brachliegenden Qualitäten von Weil am Rhein bis nach Grenzach-Wyhlen auslösen? Die Kleinbasler Rheinpromenade könnte auf dem «Deckel» der neuen S-Bahn zu einem grosszügigen städtischen Freiraum erweitert werden und dem Quartier die so dringend benötigten Freiflächen geben.

Wer wirtschaftlich denkt, investiert sein Geld da, wo er das beste Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag realisieren kann. Das ist ökonomisch vernünftig und eigentlich plausibel – auch die meisten privaten Haushalte müssen wirtschaftlich denken, um über die Runden zu kommen. Ganz anders offenbar die öffentliche Hand. Mit ihrer Ausrichtung auf die unmittelbaren Interessen von Baugewerbe und Detailhandel klammert die Basler Stadtentwicklungspolitik innovative Ansätze aus und vergibt sich die Möglichkeit von Entwicklungsansätzen, die über die kurzfristigen Interessen der lokalen Unternehmerverbände hinausgehen. Um vom Bund die erhoffte finanzielle Unterstützung zu bekommen, müssen die Kantone Basel-Stadt und Baselland bis Ende 2004 ein Programm für den Agglomerationsverkehr vorlegen. Geht man davon aus, dass die so genannte Zweckmässigkeitsprüfung des «Herzstücks» im Sommer abgeschlossen sein wird, so wird es zu eng, andere verkehrs- und siedlungspolitische Strategien in gleicher Tiefe zu bearbeiten. Das Dilemma ist absehbar, und es wäre nicht verwunderlich, wenn Basel mangels fehlender Alternativen eine zwanzigjährige Baustelle bekommen wird, die mit Ausnahme ihrer Bedeutung als versteckte Subvention von Bauwirtschaft und Detailhandel nur wenig für die Entwicklung von Stadt und Agglomeration zu bieten hat.

Philippe Cabane ist Soziologe und Stadtplaner.