Durch den Monat mit Reinhard Seiss (Teil 3): Ist es so schlimm in Wien?

Nr. 29 –

Er kenne keinen anderen Ort, der so viel Eigenwerbung betreibe, sagt der Stadtplaner und Filmemacher Reinhard Seiss über Wien. Dass es sich dort so gut lebe, habe auch mit der Kaiserzeit zu tun.

Foto von Reinhard Seiss
Reinhard Seiss: «Die SPÖ betrachtet es als sozial­politische Errungenschaft, wenn proletarische Familien zwei Autos haben, mit denen sie zum Fachmarktzentrum am Stadtrand fahren.»

WOZ: Reinhard Seiss, in Ihrem Film «Der automobile Mensch» gibt es ein paar eindrückliche Zahlen zum Autoland Österreich: Mehr als fünfzig Prozent der Verkaufsfläche des Einzelhandels liegen auf der grünen Wiese, und für jeden Haushalt mit Auto gibt es im Land einen eigenen Supermarktparkplatz. Wie konnte es so weit kommen?

Reinhard Seiss: Durch eine völlig hemmungslose Raumplanungspolitik über vierzig Jahre hinweg. Ich habe 1988 mit dem Studium begonnen, in der Fachwelt war die autogerechte Stadtplanung da bereits überwunden. Diese Überzeugung hat aber nie den Sprung in die Politik geschafft. Was kein Problem der Kommunikation, sondern des Willens ist – offensichtlich ist das spätestens seit den Neunzigern, als die Politik dauernd von Nachhaltigkeit zu reden begann.

Im Film zeigen Sie ein riesiges Einkaufszentrum in der niederösterreichischen Peripherie: das G3 Shopping Resort in Gerasdorf. Was hat es damit auf sich?

Das Bundesland, das schlimmste von allen, hat es bewilligt, obwohl Einkaufszentren, die nicht in Ortschaften integriert sind, dort seit Jahren verboten gewesen wären. Die Politik war sogar stolz, weil es eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchlaufen hatte. Das ersetzt jedes Kabarettprogramm. Sie finden darin Ausgleichsmassnahmen für die Haubenlerche oder das Wiener Nachtpfauenauge, aber gleichzeitig versiegeln Tausende Parkplätze fruchtbaren Boden und werden grundlos Tausende Autofahrten verursacht. Solche Prüfungen stellen nie infrage, ob man etwas für die Umwelt komplett Unverträgliches bauen soll, sondern helfen, es trotzdem zu bauen.

Das Problem ist also nicht eine spezielle österreichische Liebe zum Auto, sondern eine autoritär funktionierende Politik?

In Österreich herrscht teilweise noch ein feudales Rollenverständnis. In Wien gibt es bei jeder U-Bahn-Station eine Tafel: «Errichtet unter Bürgermeister Dr. Sowieso, unter Finanzstadtrat Dr. Sowieso …» Allein die Vorstellung, dass die Politik uns etwas schenkt und es nicht unsere Steuergelder sind, die dann in anderen Bereichen fehlen, sagt schon viel über die österreichische Seele aus. Das Land von Sigmund Freud hat eine spezielle Gabe fürs Verdrängen und Wegschauen. Gedanken, die uns belasten würden, machen wir uns einfach nicht. Als Katholiken sind wir auch geprägt von der Gunst, dass jede Sünde verziehen werden kann.

Ist Wien, wo Sie wohnen, ein gutes Beispiel dafür? Im Gegensatz zur Selbstwahrnehmung als Stadt mit der besten Lebensqualität der Welt kommt sie bei Ihnen weniger gut weg.

Ich kenne keine Stadt, die so viel in Eigenwerbung investiert wie Wien, von totalitären Regimes einmal abgesehen. Als ob es immer noch darum ginge, das Rote Wien als Bastion gegen die protofaschistische Bundesregierung der Zwischenkriegszeit zu verteidigen – und seine Einzigartigkeit und sein Bessersein zu demonstrieren. Wiener Stadtplanungsdirektoren tourten sogar schon durchs Baltikum und präsentierten, wie toll Architektur und Städtebau hier sind, es ist absurd.

Ist es so schlimm?

Wien hat – nicht in städtebaulicher, aber in sozialer Hinsicht – eine vorbildliche Wohnbaupolitik. Und ja, auch eine sehr hohe Lebensqualität. Letztere ist aber nur sehr bedingt der heutigen Politik geschuldet. Die Leitungen, die das hervorragende Trinkwasser direkt aus den Alpen in die Stadt bringen, wurden noch zur Kaiserzeit gebaut. Und auch wenn sie oft im Stau stehen, hat Wien doch viele Strassenbahnen. Was ebenfalls ein Erbe und kein Verdienst der letzten Jahrzehnte ist, in denen sogar mehrere Linien stillgelegt wurden. Es gibt noch einen anderen Grund für die Lebensqualität von Wien: Es ist die einzige europäische Grossstadt, die heute weniger Einwohner:innen hat als vor gut hundert Jahren. Im Unterschied zu Städten mit einer kleinen Innenstadt und riesigen, in der Nachkriegszeit entstandenen autogerechten Gebieten leben hier immer noch viele in gründerzeitlich geprägten und somit autolos geplanten Stadtteilen.

Und die heutige Politik? Ist Wien nicht eine sozialdemokratisch regierte Stadt?

Verkehrspolitisch herrscht in Österreich zwischen SPÖ und ÖVP absolut kein Unterschied. Die SPÖ ist eine Autofahrer:innenpartei. Sie betrachtet es, etwas verkürzt, als sozialpolitische Errungenschaft, wenn proletarische Familien ein bis zwei Autos haben, mit denen sie günstig zum ebenfalls günstigen Fachmarktzentrum am Stadtrand fahren können.

Im Herbst könnte die FPÖ die nationalen Wahlen gewinnen. Der «Ibiza-Skandal» scheint verdrängt.

Manchmal denke ich: In welchem Film bin ich denn da gelandet? Kürzlich hat ein FPÖ-Parlamentarier zu einer Schulklasse gesagt, Menschen, die kein Schweinefleisch ässen, seien mit höherer Wahrscheinlichkeit terroristische Gefährder. Die Partei spielt heute ganz offen mit nationalsozialistischem Vokabular, der Spitzenkandidat geriert sich als «Volkskanzler». Die FPÖ ist ein wirklich bedenkliches und beschämendes Zeichen dafür, wie tief das kulturelle, geistige und humanistische Niveau in diesem Land gesunken ist.

Reinhard Seiss (54) ist freiberuflicher Stadtplaner, Filmemacher und Buchautor. In einem «Planungskrimi» («Wer baut Wien?», Verlag Anton Pustet, 2013) seziert er die verfehlte Planungspolitik und die fragwürdige demokratische Kultur Wiens.