Grenzüberschreitender Einkaufstourismus: Im Stau auf Schnäppchenjagd

Nr. 50 –

Am Wochenende stürmen sie Konstanz – SchweizerInnen, die billig einkaufen. In Konstanz herrscht dann Ausnahmezustand, während der Detailhandel im benachbarten Kreuzlingen ums Überleben kämpft.

Vor dem Hauptziel der ShopperInnen: VerkehrskadettInnen aus dem Thurgau unterstützen die Stadt Konstanz bei der Abwicklung des Einkaufsverkehrs.

Anfang Dezember, Samstagmorgen, 9 Uhr. Eine kalte Brise streicht über Konstanz, es riecht nach Schnee. Auf dem Weihnachtsmarkt, der sich von der Marktstätte bis zum See erstreckt, klappen die ersten HändlerInnen ihre Buden auf. In den Geschäften zwischen dem Rhein und der Grenze bereitet sich der Detailhandel auf einen weiteren Grosskampftag vor. Und da kommen sie auch schon. Am Bahnhof spuckt der Zug aus Biel pünktlich um 8.56 Uhr Hunderte von Menschen auf den Bahnsteig 3.

Am Emmishofer Zoll – einem von vier Grenzübergängen zwischen Konstanz mit seinen 82 000 EinwohnerInnen und Kreuzlingen (20 000 EinwohnerInnen) – bauen sich die ersten Staus auf. Die motorisierten BesucherInnen kommen aus mehreren Richtungen – aus der gesamten Ostschweiz, aber auch Autos aus Bern, Solothurn oder Luzern bewegen sich im Schritttempo Richtung Konstanz. Kurz danach, die Läden in der Innenstadt haben inzwischen geöffnet, stauen sich die Fahrzeuge bis tief hinein in die Nachbarstadt Kreuzlingen, fast alle Motoren laufen.

Ein deutscher Zöllner sitzt fröstelnd in seinem Häuschen und stempelt die Ausfuhrzettel ab, mit denen sich die Schweizer Kundschaft die in Deutschland bezahlte Mehrwertsteuer zurückholt (vgl. «Papierkrieg an der Grenze» im Anschluss an diesen Text). Der Mann ist sichtlich genervt: «Wir machen bald nichts anderes mehr als stempeln. Idiotenarbeit, das könnte auch meine dreijährige Tochter. Jetzt gehts ja noch, aber kommen Sie mal in einer Stunde wieder vorbei. Das wird immer schlimmer.» Er hofft auf baldige Ablösung. Michael Hauck, Pressesprecher des Hauptzollamts Singen, ist täglich mit dieser Situation konfrontiert: «Das fing gegen Ende 2010 mit dem Erstarken des Frankens an und hat seither dramatisch zugenommen.» Im Hauptzollbezirk zwischen Konstanz und Bad Säckingen sehe es überall ähnlich aus, so Hauck. Erstaunlich sei auch für ihn: «Früher kamen die Schweizer aus dem grenznahen Gebiet nach Deutschland, jetzt nehmen sie auch weitere Anfahrten von bis zu hundert Kilometern und mehr in Kauf.» Verstehen könne er das nicht, aber es sei nun mal so.

«Das macht keinen Spass mehr»

Kurz nach der Grenze geht kaum noch was. Für die hundert Meter vom Zoll bis zum Kreisel, wo die meisten rechts abbiegen, müssen die AutomobilistInnen bis zu zwanzig Minuten Wartezeit in Kauf nehmen. Ich frage einen Fahrer, woher er kommt. Aus St. Gallen, antwortet er mürrisch. Warum er nicht die bequeme und schnelle Verbindung mit der Bahn nutze? Das, so die barsche Antwort, gehe mich rein gar nichts an. Direkt am Kreisel stösst der Autowurm auf TagesausflüglerInnen, die über die N7 gekommen sind, den Autobahnzoll passiert haben und ebenfalls in die Konstanzer Innenstadt wollen.

Junge Frauen und Männer von der Verkehrswacht versuchen nach Kräften, das Chaos halbwegs zu regeln. Hektische Betriebsamkeit, Walkie-Talkies sind im Einsatz, und einzelnen Gesprächsfetzen lässt sich entnehmen, dass es an anderer Stelle nicht besser aussieht: «Die alte Rheinbrücke ist völlig dicht, schickt uns mal Verstärkung.» Mit Engelsgeduld erklären die VerkehrswächterInnen, dass die Stadt jetzt schon völlig überlaufen sei, und verweisen auf den Park-and-ride-Platz, der gerade um die Ecke liegt. Von dort fahre ein Shuttlebus in die Stadtmitte. Doch das interessiert kaum jemanden.

Manchmal bleibt den VerkehrswächterInnen nichts anderes übrig, als die Zufahrt in die City kurzfristig mit Absperrgittern zu verbarrikadieren. Das Verständnis für diese Massnahme hält sich bei den AutofahrerInnen in Grenzen. «Je länger die im Stau stehen», so eine junge Frau, die hier ihren Dienst verrichtet, «desto aggressiver werden sie.» Ihre Kollegin bestätigt: «Beschimpfungen und Pöbeleien nehmen zu. Das macht bald keinen Spass mehr. Dabei versuchen wir denen ja nur zu erklären, wie sie halbwegs stressfrei mit dem Bus in die Stadt kommen können.»

Im Schneckentempo quälen sich die AutomobilistInnen zum Ort ihrer Sehnsüchte, dem Einkaufszentrum Lago am Konstanzer Bahnhof. Auf dem Weg zu dem riesigen Komplex mit seinen Filialen bekannter Modekonzerne, seinen Sportgeschäften, Restaurants, Billigdiscountern, Computerläden und Fitnesszentren treffen sie auf Gleichgesinnte, die aus dem südwestdeutschen Raum anreisen. Bereits mehrere Kilometer vor der Stadtgrenze geht es auch für diese BesucherInnen aus dem Hinterland nur Meter für Meter vorwärts, darunter sind sogar EinkaufstouristInnen aus Stuttgart, Tübingen, Freiburg oder Rottweil. Es ist mittlerweile 11 Uhr, und rund um die Konstanzer Altstadt reiht sich nun Stossstange an Stossstange. Auf ihrer Anfahrt wurden die Reisenden zwar über Signaltafeln mehrfach darüber informiert, dass alle Parkhäuser im mittelalterlichen Stadtkern besetzt sind – doch das stört kaum jemanden. Irgendwo und irgendwann wird sich schon ein Plätzchen finden.

Stockender ÖV

Konstanz, Ecke Rosengarten- und Bodanstrasse: Was treibt die Leute hierher? Warum nehmen sie die Warterei im Auto, die überfüllten Parkhäuser, das Gedränge und Geschiebe auf sich?

Und so sieht es dann auch aus rund um die Konstanzer Altstadt: Jeder Zentimeter ist zugeparkt, darunter frei zu haltende Flächen für Feuerwehreinsätze, Velowege oder Garageneinfahrten. Vor allem die AnwohnerInnen der angrenzenden Stadtteile Stadelhofen und Paradies klagen seit Jahren darüber, dass ihre Quartiere freitags und samstags im Verkehr ersticken. «Es sind meistens Besucher aus dem Nachbarland, die uns ihr Blech vor die Türen stellen», ist oft zu hören, und an Konstanzer Stammtischen wird immer lauter über die «Schnäppchenjäger und Heuschrecken aus der Schweiz» gelästert.

Dass der lokale Detailhandel den KonstanzerInnen empfohlen hat, ihre Einkäufe zwischen Montag und Donnerstag zu erledigen, hat die Stimmung unter den Einheimischen nicht verbessert. Ekkehard Greis sieht das ein bisschen anders, aber er ist auch Pressesprecher des örtlichen Einzelhandelsverbands: «Der Konstanzer Einzelhandel steht gut da. Fast alle profitieren vom günstigen Wechselkurs, und wenn es dem Einzelhandel gut geht, geht es auch den Handwerkern, den Zulieferern oder der Gastronomie gut.» Die massive Verkehrsbelastung, das räumt er ein, sei schon ein Problem. «Das aber», so Greis, «müssen die Konstanzer zusammen mit den Kreuzlingern lösen, sonst wird das nichts.»

Bodanstrasse, kurz nach dem Grenzübergang. Vor allem hier geht es nur zäh voran. Zur Lago-Shoppingmall sind es zwar nur noch ein paar Hundert Meter, doch das Parkhaus ist voll besetzt, die Wartezeit beträgt eine halbe Stunde und mehr. Und zwischen den Fahrzeugen stecken die Busse der Konstanzer Stadtwerke; die Strasse ist nur zweispurig befahrbar, für eine Busspur gibt es keinen Platz. Vier Minuten braucht der Bus laut Fahrplan für die Strecke von der Haltestelle Schnetztor bis zum Bahnhof, freitags und samstags sind es erheblich mehr. Und so empfehlen die genervten BuschauffeurInnen den Fahrgästen immer öfter, früher auszusteigen: «Wenn Sie sitzen bleiben, brauchen Sie noch mindestens zwanzig Minuten, zu Fuss maximal fünf.» Die meisten befolgen diesen Rat. Zurück bleibt ein Busfahrer, der seinem Ärger Luft verschafft: «Ich habs langsam satt und viele meiner Kollegen auch. So kann das nicht weitergehen, und es wird von Woche zu Woche schlimmer. Und jetzt kommt noch das Weihnachtschaos.»

Dauerstress bei schlechtem Lohn

Was treibt die Leute hierher? Warum nehmen sie die Warterei im Auto, die überfüllten Parkhäuser, das Gedränge und Geschiebe auf sich? Mit hohem Kraftaufwand schiebt eine Frau ihren vollen Einkaufswagen vor sich her, zwei nörgelnde Kinder im Schlepptau. Sie hat sich bei einem Discounter im Lago-Center mit Lebensmitteln für eine ganze Woche eingedeckt. «Ich habe für rund 200 Euro eingekauft», sagt sie, «zu Hause in Romanshorn würde ich sicher vierzig Prozent mehr bezahlen. Ausserdem bekommen wir ja die Mehrwertsteuer zurück. Das rechnet sich.» Seitdem der Wechselkurs so vorteilhaft sei, fahre sie jedes Wochenende mit dem Auto nach Konstanz, auch wenn die Anreise immer beschwerlicher werde. «Man muss eben schon gegen 9 Uhr da sein, dann findet man noch einen Parkplatz.» Ob sie denn schon mal daran gedacht habe, mit dem Zug zu kommen? «Und wie soll ich das alles transportieren?», fragt die Frau zurück und deutet auf den Einkaufswagen, der schier in die Knie geht. Lago-Manager Peter Herrmann ist zufrieden. Mit Stolz verweist er auf die Erfolgsbilanz des Centers: «An Spitzentagen zählen wir bis zu 50 000 Besucher, und 2013 sind wir zum zweiten Mal in Folge zum besten Einkaufszentrum in Deutschland gewählt worden.»

Weniger glücklich sind die VerkäuferInnen. Sie stehen im Dauerstress, vor vielen Kassen bilden sich lange Schlangen. Vor der Tür eines Modegeschäfts gönnt sich eine Verkäuferin einen schnellen Pausenkaffee. Überwiegend junge Leute kämen in den Laden, erzählt sie: «Die meisten aus der Schweiz, der Rest aus Konstanz und dem deutschen Hinterland.» Ist sie mit ihrer Bezahlung zufrieden? Sie lächelt gequält und eilt wieder an ihre Kasse.

Markus Klemt, Sekretär der Dienstleistungsgesellschaft Verdi und zuständig für den Einzelhandel im Bezirk Schwarzwald-Bodensee, weiss, wie es um die Löhne im Konstanzer Einzelhandel bestellt ist. «Nur in wenigen Betrieben gilt der Tarifvertrag», sagt er, «vor allem im Lago arbeiten noch immer viele Menschen für Stundenlöhne von nicht mal acht Euro brutto.» Hungerlöhne seien das, schimpft der Gewerkschafter – und das ist nicht übertrieben, schon gar nicht in Konstanz, einer der teuersten Städte Deutschlands. Zwar habe gewerkschaftlicher Druck dazu geführt, dass in tarifgebundenen Betrieben mittlerweile bis zu fünfzehn Euro brutto bezahlt würden, aber viel ist das immer noch nicht. «Damit kommen die Verkäufer», so Klemt, «auf monatlich rund 2500 Euro. Das ist zwar auch nicht die Welt, reicht aber zum Überleben.»

Immerhin kann der engagierte Gewerkschafter von kleinen Erfolgen aus dem Niedriglohnsektor berichten, über den Streik bei Cine Star zum Beispiel, dem Kinokomplex im Lago. Als dort die Beschäftigten vor einigen Monaten die Arbeit niederlegten, wollten vor allem die Schweizer BesucherInnen kaum glauben, als ihnen die Streikposten erzählten, was Cine-Star-Beschäftigte verdienen: sieben Euro in der Stunde. «Dafür setzt bei uns keiner einen Fuss vor die Tür», sagten da so manche – und machten auf dem Absatz kehrt. Die grenzüberschreitende Solidarität wirkte: Nach mehreren Streiktagen unterschrieb der Kinobetreiber von Cine Star einen Tarifvertrag bis 2016 und zahlt, rückwirkend ab Juli 2013, Stundenlöhne von etwa zehn Euro.

Viele kommen nicht nur zum Shoppen in die 82 000-EinwohnerInnen-Stadt, die ab nächstem Jahr das 600-Jahr-Jubiläum des Konstanzer Konzils feiern will. Zur Mittagszeit sind auch die Restaurants rund um den Konstanzer Bahnhof voll besetzt. In einer italienischen Gaststätte macht sich ein Pärchen aus Zürich gerade über eine wagenradgrosse Pizza her. Ja, man komme regelmässig mit dem Auto nach Konstanz, bummle durch die schöne Altstadt und kaufe günstig ein. «Sehen Sie», sagt der Mann, «wir trinken und essen hier zusammen für umgerechnet 25 Franken, da bekommen wir zu Hause nicht mal zwei Teller Suppe.» Seinen Wagen habe er in Kreuzlingen abgestellt, auf der deutschen Seite finde man sowieso keinen Parkplatz. Und die zehn Minuten Fussweg bis in die Konstanzer Innenstadt seien ja wohl kein Problem.

Nur noch Tanktourismus

Auch in Kreuzlingen geht es hoch her. Allerdings nur auf den Parkplätzen und auf den Strassen, denn es gibt nur ein Ziel: direkt nach Konstanz, egal wie lange es dauert. Beschaulich, ja fast idyllisch geht es in den Kreuzlinger Geschäften zu. In einem Schuhladen am Kreuzlinger Boulevard hat das Personal kaum zu tun, in einer Modeboutique faltet eine Angestellte in aller Ruhe Pullover zusammen. Nun ja, die Zeiten seien eben nicht mehr so rosig wie früher, sagen viele GeschäftsinhaberInnen, aber man könne immer noch auf eine zufriedene Stammkundschaft zählen – «auch aus Deutschland», fügen manche fast trotzig hinzu.

Noch vor zehn Jahren bewegte sich der grenzüberschreitende Einkaufstourismus in die Schweiz. Als es noch eine Migros direkt hinter dem Emmishofer Zoll gab, als der Wechselkurs aus Sicht des Kreuzlinger Detailhandels noch stimmte, strömten jeden Samstag Tausende KonstanzerInnen zu den damals billigeren und manchmal besseren Schweizer Waren: Teigwaren, Glühbirnen, Käse, Küchengeräte und Zigaretten standen bei den Deutschen hoch im Kurs. Inzwischen aber macht dieses ehemals lebendige Quartier einen öden Eindruck. Viele Geschäfte haben aufgegeben oder sind umgezogen. Gewerbeflächen stehen in grosser Zahl leer. Dazu werden Hochhäuser gebaut in der Hoffnung, dass die überteuerten Mietpreise in Konstanz Wohnungssuchende nach Kreuzlingen treiben. Das hat früher funktioniert, aber diese Zeiten sind vorbei. Mittlerweile sind Wohnungen in Kreuzlingen ähnlich teuer wie in Konstanz. Von dort kommen fast nur noch AutofahrerInnen über die Grenze: Sie tanken voll und fahren wieder zurück.

Es wird lange dauern, bis sich die Verhältnisse wieder ändern. Das weiss auch Peter Markstaller, Präsident des Gewerbeverbands Kreuzlingen. «Die Völkerwanderung hat sich allmählich stabilisiert, allerdings weiterhin auf beschissenem Niveau.» Und das, sagt er, «wird sich kurzfristig bestimmt nicht ändern». Schuld an der Situation haben seiner Meinung nach auch die Schweizer Medien: «Die rechnen doch unseren Leuten täglich vor, wie viel sie sparen können, wenn sie in Deutschland einkaufen. ‹Geiz ist geil› heisst das Motto, und keiner denkt daran, was das für unsere Volkswirtschaft bedeutet oder für unser Lohnniveau.» Aber er habe aufgehört, sich darüber aufzuregen. «Damit müssen wir uns eben abfinden, dauerndes Jammern bringt ja nichts.»

Mit dem deutschen Einzelhandel könne der Schweizer Detailhandel ja sowieso nicht konkurrieren: «Bei uns kosten dieselben Produkte bis zu fünfzig Prozent mehr, weil das von den Grosskonzernen so gesteuert wird. Unsere Schuhverkäufer können beispielsweise ein Paar Schuhe nicht mal zu dem Preis einkaufen, den der deutsche Kollege in seinem Konstanzer Laden verlangt.» Allerdings, räumt er ein, sei der Niedergang eines Teils des Kreuzlinger Detailhandels auch selbst verschuldet, denn viele Gewerbetreibende seien «absolut beratungsresistent» und hätten es versäumt, ihr Sortiment, ihre Ausrichtung oder ihre Ladeneinrichtung den heutigen Bedürfnissen anzupassen. Und so ist für Markstaller klar: «Bleiben die bei ihren alten Zöpfen, dann wird der Strukturwandel eben weiter beschleunigt.»

Ratloser Detailhandel

Vor knapp zwei Jahren war man in Kreisen des Kreuzlinger Handels noch fest davon überzeugt, dass man der deutschen Konkurrenz mit innovativen Ideen Paroli bieten könne. Die Initiative Poschte in Chrüzlinge (PiC) wurde gegründet, verbunden mit einem Aufruf an die Kreuzlinger Kundschaft, doch lieber vor Ort einzukaufen und damit die lokale Wirtschaft zu stärken. Auch die Stadtverwaltung schaltete sich ein, und der Kreuzlinger Stadtammann Andreas Netzle war dabei, als die Taskforce Boulevard mit VertreterInnen aus Detailhandel, Gewerbe und Gastronomie einberufen wurde, «um geeignete Massnahmen gegen den Konsumentenabfluss zu erarbeiten».

Doch der Elan war schnell verpufft, Ende 2012 löste sich PiC wieder auf. Und der «Boulevard», einst geplant als lebendiges Zentrum inmitten der Grenzstadt, ist das geblieben, was er von Anfang an war: eine hochfrequentierte Durchgangsstrecke vor allem für jene, die nach Konstanz wollen. Zurzeit wird erneut darüber diskutiert, ob es nicht besser wäre, den «Boulevard» zur autofreien Zone zu erklären. Der Stadtrat wird dem Gemeinderat die Initiative im Frühjahr 2014 vorlegen, spätestens im November 2014 sollen die Kreuzlinger BürgerInnen darüber abstimmen.

Auch Erich Kramer, Sektionssekretär der Gewerkschaft Unia im Thurgau, beobachtet die Entwicklung mit Sorge: «Der Detailhandel in Kreuzlingen und im ganzen Thurgau leidet seit Jahren unter dem starken Franken.» Einige Kreuzlinger Geschäfte hätten schon schliessen müssen oder stünden kurz davor, «darunter meist kleine Familienbetriebe mit ein oder zwei Angestellten». Halten könnten sich lediglich spezialisierte Läden wie etwa der eines Zigarrenhändlers, der weit und breit keine vergleichbare Konkurrenz habe. Wem es weniger gut gehe und wer seinen Arbeitsplatz verliere, so Kramer, «der findet hier vor Ort keine neue Betätigung mehr. Und wer keinen Vollzeitjob mehr hat und nur noch 3000 Franken oder weniger im Monat verdient, muss sparen und kauft deswegen lieber billig in Deutschland ein.» Wie man da gegensteuern könne? Kramer ist ratlos: «Ich weiss es nicht, wir haben da auch keine schlüssige Idee.»

Kurzfristige Sperrung und eine Schnapsidee

Zurück Richtung Konstanzer Innenstadt. Vorbei an immer noch langen Staus, vorbei an stempelnden ZöllnerInnen, vorbei an voll besetzten Parkhäusern, eingeklemmten Bussen und fast hilflosen VerkehrswächterInnen. Kurz vor 14 Uhr herrscht immer noch oder schon wieder Ausnahmezustand. Die zweite oder dritte Welle rollt auf die Stadt zu, und es wird nicht die letzte sein.

Die Kreuzlinger Geschäftswelt leidet, die Konstanzer Bevölkerung ist genervt, weil die Kassen von SchweizerInnen blockiert werden, die sich für ein Stück Seife oder ein Deo eine Ausfuhrbescheinigung aushändigen lassen. Und die Konstanzer Verwaltung ist ratlos, wie sie dem Verkehrschaos zu Leibe rücken soll. Sie hat zwar zwei Stellen geschaffen, um den «Kontrolldruck auf die Falschparker zu verschärfen», aber das löst das Problem nicht. Sie hat auch einen Park-and-ride-Platz eingerichtet, der aber nicht angenommen wird und auch an Samstagen nicht mal zu einem Viertel belegt ist.

Daran wird sich auch nichts ändern, solange kein Konzept auf dem Tisch liegt, das die Verkehrsströme grundlegend neu ordnet. Ein überwiegend autofreier Altstadtring ist unter anderem im Gespräch, der Verkehr soll vor den Toren der Stadt rigoros abgefangen werden. Doch dagegen revoltiert der Einzelhandel, unterstützt von den bürgerlichen Fraktionen im Konstanzer Gemeinderat. In diesen Kreisen herrscht die Meinung vor, dass die Kundschaft so dicht wie möglich an die Ladenkassen heranfahren können soll. Zwar sind sich alle Fraktionen einig, dass der Verkehr reduziert werden muss, doch die heilige Kuh Auto geniesst auch auf deutscher Seite immer noch Artenschutz.

In seiner Verzweiflung drohte Oberbürgermeister Uli Burchardt (CDU) jüngst mit «brachialeren Methoden» und deutete an, einzelne Quartiere künftig absperren zu wollen – doch passiert ist nicht viel. Auch die jetzt beschlossene Schliessung des Hauptzolls, die mit der Kreuzlinger Stadtverwaltung abgesprochen wurde, ist keine Lösung. Erstens dauert sie nur bis zum Dreikönigstag, zweitens vergrössert sie das Verkehrsaufkommen an den anderen Grenzübergängen. Kurzfristig Luft verschaffte sich der Konstanzer Rathauschef, als er mit der Idee einer städtischen Seilbahn hausieren ging. Ernsthaft auseinandersetzen will sich der Konstanzer Gemeinderat mit dem Thema Verkehr am kommenden Donnerstag. Bis dahin sollen die Überlegungen vorliegen, die in diversen Mobilitätsforen gesammelt wurden. KritikerInnen sind skeptisch: Das Thema steht nicht zum ersten Mal auf der Tagesordnung, und es wird wohl sein wie immer, wenn es in Konstanz um Verkehrspolitik geht: einen Schritt vor und dann wieder einen zurück.

Nordmanntanne statt Velo: Schwyzer Wohnmobil auf dem Parkplatz am Emmishofer Zoll.

Der freie Journalist Holger Reile ist Mitglied des Konstanzer Gemeinderats (Linke Liste Konstanz) und Redaktor des regionalen Onlinemagazins «SeeMoz.de».

Papierkrieg an der Grenze

Im Bereich des Hauptzollamts Singen – sein Zuständigkeitsbezirk reicht von Konstanz bis Bad Säckingen – wurden 2012 knapp 9 Millionen Ausfuhrbescheinigungen abgestempelt, mit denen sich die KonsumentInnen beim nächsten Einkauf die Mehrwertsteuer in Höhe von neunzehn Prozent zurückerstatten lassen können. Umgerechnet sind das 30 000 Bescheinigungen täglich, ein neuer Rekord. 2011 waren es noch 7,1 Millionen Zettel. Rund hundert ZollbeamtInnen sind allein damit beschäftigt. Für 2013 erwarten die Behörden ähnliche Zahlen.

Beim Hauptzollamt Lörrach mit seinen dreizehn Zollämtern waren es 2012 fast 5 Millionen Ausfuhrbescheinigungen. Dort sind vierzig ZöllnerInnen für das Abstempeln der Zettel zuständig. Auch hier ein neuer Rekord, 2011 waren es noch 3,9 Millionen.

Ganz oben auf der Einkaufsliste der SchweizerInnen stehen Lebensmittel und Drogerieartikel. Knapp dahinter: Bekleidung, Schmuck, Autozubehör, Möbel, Uhren und Heimwerkerbedarf.