Von Fussball-Hooligans zu Paramilitärs

Die Rolle des Fussballs zum Ausleben nationalistischer Fantasien wird gemeinhin unterschätzt. Das mag daran liegen, dass spätestens seit 1936, der Gleichschaltung des Sportbetriebs durch die deutschen Nationalsozialisten, ungehemmter Chauvinismus auf den Tribünen und in der Sportberichterstattung als ein signifikantes Merkmal von Diktaturen gilt. Auch während des Kalten Krieges zeigte sich dies durch Boykotte von Grossereignissen wie Olympischen Spielen und Fussballweltmeisterschaften immer wieder. Zwar artikulieren sich Nationalismen in gefestigten Demokratien versteckter und weniger folgenreich, doch auch ein junger, vorbelasteter Staat wie die Bundesrepublik war in den Jahren nach 1945 davor nicht gefeit. Als ein Symbol bundesdeutscher Identitätsfindung gilt ohne Zweifel der erste Weltmeistertitel des DFB von 1954 in Bern, wo das Team des einstigen Reichstrainers Sepp Herberger die hoch favorisierten Ungarn mit 3:2 Toren besiegte – mit einem Schlage war man in der Welt wieder wer.
Er habe keine Nationalismen in der Sportberichterstattung gekannt, sagt Rudi Michel heute, ehemals Sportchef beim Südwestfunk in Baden-Baden. Michel gehörte dem Reporterteam von 1954 an und erinnert sich an die Haltung der Journalisten gegenüber einer nationalistisch gefärbten Berichterstattung: «Das war verpönt.» Zwar wurde die Sensation des Titelgewinns in Deutschland entsprechend euphorisch gefeiert, doch ein chauvinistisches «Wir-Gefühl» der Deutschen bei ihrer Identitätssuche nach den traumatischen Jahren des Nationalsozialismus artikulierte sich offen erst vier Jahre später bei den Weltmeisterschaften in Schweden: Als die Titelfavoriten aus Argentinien nach dem Match gegen Herbergers Mannen geschlagen das Feld räumten, stürmten deutsche Fussballanhänger den Platz und schwenkten Plakate mit Aufschriften wie «Weltmeister wird in diesem Jahr nur die Deutsche Elf». Das mag heute harmlos erscheinen, doch nach der 1:3-Halbfinalniederlage gegen den Gastgeber Schweden gebärdete sich auch die bürgerliche Presse offen chauvinistisch. Der Verteidiger Erich Juskowiak war wegen eindeutigen Nachtretens vom Platz gestellt worden, und Deutschland wähnte sich deshalb – ähnlich wie Berti Vogts nach der Niederlage gegen Kroatien an den letzten Weltmeisterschaften – als «kollektiv betrogen». Die Schweden, schrieb ein Leitartikler der «Saar-Zeitung» nach der Niederlage, seien «ein mittelmässiges Volk, das sich nie über nationale oder völkische Durchschnittsleistungen erhoben hat». Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland war zu diesem Zeitpunkt gerade mal neun Jahre alt.

Identitätsstiftende Strahlkraft

Die Folgen einer gesteuerten Kanalisierung des Aggressionspotenzials von Fussballfans werden gegenwärtig in besonders pervertierter Form am Beispiel der jüngsten Vergangenheit des jugoslawischen Fussballklubs Roter Stern Belgrad deutlich. Massgeblichen Anteil daran hat der Parteifunktionär und Grossbäcker Zeljko Raznatovic. Raznatovic hat sich während der Balkankriege auf besondere Weise hervorgetan und ist seitdem auch unter dem Namen Arkan bekannt. Die ihm unterstellte paramilitärische Einheit «Tiger» wird verdächtigt, während der Kriege in Bosnien und Kroatien mehr als 2000 Menschen ermordet zu haben. Auch im Kosovo-Krieg gehen die «Tiger» nach Aussagen Flüchtender mit grosser Brutalität vor. Raznatovic soll auf unveröffentlichten Listen des Haager Tribunals als Kriegsverbrecher angeklagt sein und auf der Fahndungsliste von Interpol stehen. Gegenwärtig ist er Inhaber des Fussballklubs Obilic Belgrad, der im letzten Jahr bei der jugoslawischen Meisterschaft die Traditionsklubs Roter Stern und Partizan Belgrad hinter sich liess.
Als Person des öffentlichen Lebens in Serbien steht Raznatovic oftmals auch im Brennpunkt der internationalen Medien. Dass er sich bei der Rekrutierung seiner Paramilitärs massgeblich bei den Hooligans von Roter Stern bediente, ist jedoch weniger bekannt. Raznatovics Karriere als Fussballimpresario begann Ende der achtziger Jahre im Klub Roter Stern Belgrad. Zu dieser Zeit hatte Slobodan Milosevic erste Teile der serbischen Bevölkerung hinter sich gebracht, und Raznatovic wusste das nationalistische Potenzial in der Anhängerschaft und die Strahlkraft des Traditionsklubs für militärische Zwecke zu nutzen, was wiederum Nutzen für Milosevics grossserbische Fantasien versprach.
Der serbische Schriftsteller Petar Dzadzic rechnete 1989 den Klub (neben der «Akademie der Künste und Wissenschaften», der Zeitung «Politika» und dem Verlagshaus «Prosveta») zu jenen vier Institutionen, die prägend für das gesellschaftliche Leben in Serbien sind. Die identitätsstiftende Wirkung des Vereins griff bis in die Publikationen der serbischen Bevölkerung in Kroatien. Ein Autor schrieb in der Zeitung «Naso Rijec»: «Roter Stern ist mehr als Fussball, es ist ein Symbol serbischen Wesens.» Ebenso chauvinistisch aufgeheizt war die Stimmung unter den Hooligans von Roter Stern auf den Plätzen des Gegners, vor allem beim Aufeinandertreffen mit den nicht minder nationalistisch gestimmten Fangruppen kroatischer Teams. «Wir sind die Delije (Recken) / aus dem stolzen Serbien. Slobo, du Serbe, / Serbien steht hinter dir. / Kommt auf die Terrasse, grüsst die serbische Rasse ...» Randale war angesichts solcher Verlautbarungen in Auswärtsspielen programmiert.

Scheinbare Befriedung

Ausgestattet mit Ballonmütze und Turnschuhen begann Raznatovic 1989 seine Arbeit als Fankommissar von Roter Stern und verbuchte binnen weniger Monate nicht für möglich gehaltene Erfolge: Es gelang ihm, die rivalisierenden Fangruppen miteinander zu versöhnen und auch das gespaltene Verhältnis der Hooligans zur Vereinsführung zu kitten. Raznatovics persönlicher Einsatz um des Burgfriedens auf den Belgrader Tribünen willen war immens: Achtzig Fans nahm er auf eigene Kosten zum Cupspiel bei den Glasgow Rangers mit. Um welchen Preis die «Delije» ruhig gestellt worden waren, wurde den kritischen Beobachtern erst später klar.
Rückblickend konstatiert Raznatovic nach einem Auswärtsspiel in Kroatien bei Dinamo Zagreb vom 13. Mai 1990: «Ich habe den Krieg vorausgesehen wegen dieses Spiels in Zagreb.» Er fällt die Entscheidung, dass seine «Recken» Vorbereitungen für den Krieg treffen sollen: «... wir haben uns sofort organisiert.» Ein halbes Jahr später wird Raznatovic in der kroatischen Stadt Dvor verhaftet, und er verbringt sechs Monate im Gefängnis. Der Vorwurf lautet, er habe den Serben beim bewaffneten Widerstand helfen wollen. Dass er kurz vor seiner Verhaftung die serbische Freiwilligenarmee gegründet hatte, war damals kaum bekannt. Arkan hatte sich clever in die Position eines nationalen Märtyrers manövriert. Nach seiner Freilassung im Sommer 1991 rückte Raznatovic mit seinen Recken nach Slawonien aus; diesmal nicht als Fankommissar von Roter Stern, sondern als Kommandant der Freiwilligengarde.
Einen Grossteil seiner paramilitärischen Truppe rekrutierte er aus Anhängern von Roter Stern, die er sorgfältig auf den Krieg vorbereitet hatte: «Ja, als Fans haben wir natürlich zuerst ohne Waffen trainiert (...) Ich habe von unsern Anfängen an auf Disziplin insistiert.» Das Konvertieren der Hooligans zu bewaffneten Verfechtern des Serbentums fand auch in den Sportmagazinen viel Anklang. Die Zeitung «Zvedzdina Revija» erging sich in Frontberichterstattung: «Alle anständig frisiert, mit schwarzen Soldatenmützen, setzen sie sich mit einem Lied in Bewegung: Die serbische Armee, wir sind das, die Tiger Arkans, Freiwillige von Reih’ zu Reih’, serbisches Land geben wir niemals frei.» Beifall fand auch der «beispielhafte Einsatz» der «Tiger» bei der «Befreiung» von Vukovar. Nur ein Jahr später zogen Arkan und seine Freunde, «die besten Fans der Welt» («Zvedzdina Revija»), zum nächsten Kriegsschauplatz nach Bosnien.
Raznatovic besitzt seit 1994 den Belgrader Fussballklub Obilic, den er, seinerzeit noch in der vierten Division spielend, preiswert erwarb. Es ist kaum ein Zufall, dass Arkan ausgerechnet in diesen maroden Fussballklub investierte: Der Vereinsname erinnert an den serbischen Fürsten Milos Obilic, der 1389 in der Schlacht um das Kosovo gegen den osmanischen Heerführer Murat siegreich blieb und seither in einigen Regionen Serbiens, wenngleich von der orthodoxen Kirche nicht offiziell kanonisiert, als Heiliger verehrt wird. Auch Obilic Belgrad spiegelt den schnellen Aufstieg des Politparvenus wider, der bereits seit 1992 Sitz und Stimme im serbischen Parlament besitzt – in nur vier Jahren trieb Raznatovic den Klub zur Meisterschaft.
Es ist legitim, die Rolle Raznatovics auch als die des Aktivensprechers des jugoslawischen Fussballs zu verstehen. Denn mitunter bedienen auch im Ausland spielende serbische Fussballer nationalistische Stereotype. Besonders bizarr war das Verhalten von Vladan Lukic, der als Aktiver von Roter Stern 1991 vier Frontbesuche in Slawonien machte und gemeinsam mit den Paramilitärs die Silvesterkorken knallen liess: «Viele unserer treuen Fans aus der Nordkurve schreiben ganz offensichtlich die leuchtendsten Kapitel der serbischen Geschichte.» Lukic, der auch beim FC Sion unter Vertrag gestanden hatte, spielte zuletzt beim französischen Erstdivisionär FC Metz. Aufgeschreckt vom Luftkrieg der Nato folgte er dem Beispiel vieler Fans, löste im April seinen Vertrag auf und meldete sich als Freiwilliger bei der Armee.

Verbindungen nach Fussball-Europa

Die englische Presse vermutet, dass Raznatovic Verbindungen bis in den schottischen Fussball unterhielt: Dem in Finanznot geratenen Premierleague-Klub FC Dundee lag die Offerte des italienischen Geschäftsmannes Giovanni Di Stefano über eine Teilhaberschaft von zehn Prozent vor. Der «Daily Record» veröffentlichte im März ein Foto Di Stefanos an der Seite Raznatovics, und wenige Tage später verlautbarten Gerüchte in der Stadt, beim Klub sei ein Geldtransfer, ausgehend von einer jugoslawischen Bank, eingegangen. Die Klubführung wollte dies nicht kommentieren, schlug aber in der Folge das Angebot Di Stefanos aus.
Ausgerechnet Arkans FC Obilic musste im vergangenen Jahr eine empfindliche Schlappe in den Qualifikationsspielen zur Championsleague gegen Bayern München hinnehmen, indem Obilic die spielerischen Grenzen aufgezeigt wurden und die Fussballverbindungen des Kriegstreibers Raznatovic erstmals in der mitteleuropäischen Öffentlichkeit bekannt wurden. Die Klubführung des FC Bayern mit Beckenbauer, Rummenigge und Scherer reagierte und liess sich anlässlich der Belgrad-Reise entschuldigen – eine offizielle Protestnote gaben die Bayern jedoch nicht ab. Und Mario Basler kommentierte in argloser Gönnerlaune: «Ich kann mich nicht um alles kümmern, was vor ein paar hundert Jahren war. Wir fahren da jetzt gemütlich hin und spielen Fussball.» Von den Journalisten aufgeklärt über den Hintergrund, meinte Basler mit Blick auf Raznatovic lediglich: «Jeder macht mal Fehler.» Zumindest Bayern-Vize Rummenigge hat aus Fehlern der Vergangenheit gelernt, wie sein Wegbleiben in Belgrad zeigt: 1978, an den Fussballweltmeisterschaften in Argentinien hatte der Bayern-Spieler noch in Basler-Manier argumentiert und die politische Situation im Gastgeberland trotz der Proteste von Amnesty International grandios verkannt: «In keinem Land der Welt sind wir vorher so herzlich begrüsst worden. Das ging nahe. Wir waren überwältigt.»