Vorausdenken: Was kommt nach dem Überleben?: Unser Sieg über Scharon

Einige Lehren, die aus der gegenwärtigen Entwicklung im Palästina-Konflikt zu ziehen sind.

Wer einen Bezug zu Palästina hat, ist in diesen Tagen benommen, schockiert und empört. Zwar ist der massive koloniale Angriff auf das palästinensische Volk fast eine Wiederholung der Ereignisse von 1982. Doch tatsächlich ist er schlimmer als Scharons Überfälle von 1971 (Gaza) und 1982 (Libanon). Das politische und moralische Klima heute ist ein gutes Stück ungehobelter. Die Medien, die fast durchgehend die palästinensischen Selbstmordattacken hervorheben und sie vom Kontext der 35-jährigen, illegalen Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel loslösen, spielen heute eine noch bedeutendere Rolle. Die Macht der USA ist noch unangefochtener. Der Krieg gegen den Terror steht zuoberst auf der weltweiten Agenda. Die arabische Welt hat noch weniger Zusammenhalt und ist zersplitterter denn je.

Dies alles hat Scharons mörderischen Instinkt weiter geschärft. Er kann noch mehr Schaden noch ungestrafter anrichten denn zuvor – gleichzeitig werden seine Bemühungen und seine Karriere stärker bedroht von der Gefahr des Misserfolgs. Ablehnung und Hass bringen letztlich weder militärischen noch politischen Erfolg. Konflikte zwischen Völkern wie dieser bergen weit mehr Elemente, als mit israelischen Tanks und Kampfjets zerstört werden können.

Krieg gegen unbewaffnete ZivilistInnen – egal wie oft Scharon seine hirnlosen Mantras zum Thema Terror hinaustrompetet – kann niemals zu einem dauerhaften politischen Resultat führen. Die PalästinenserInnen werden nicht verschwinden. Scharon wird höchstwahrscheinlich von seinem Volk verstossen und in Ungnade enden. Ausser dem Zerstörung alles Palästinensischen hat er keinen Plan, und in seiner blindwütigen Fixierung auf Arafat mehrt er dessen Prestige und lenkt die Aufmerksamkeit aller auf seine eigene blinde Besessenheit.

Scharon ist letztlich das Problem der Israeli; sie müssen mit ihm fertig werden. Unsere Hauptaufgabe dagegen besteht darin, trotz des enormen Leiden und der Zerstörung weiter nach Wegen zu suchen und Lehren zu ziehen aus dieser Krise. Dazu ein paar punktuelle Anmerkungen von einem, der beiden Welten, der arabischen und der westlichen, angehört.

Kein lokales Problem

Palästina ist nicht nur eine arabische oder islamische Angelegenheit, sondern auf Gedeih und Verderb mit vielen anderen, widersprüchlichen und sich doch überschneidenden Welten verbunden. Der Einsatz für Palästina bedeutet, sich dieser vielen Dimensionen ständig bewusst zu sein. Dazu benötigen wir eine gut ausgebildete, wachsame und erfahrene Führung – und deren demokratische Unterstützung. Und allem voran müssen wir uns darüber klar sein, dass Palästina eine der grossen moralischen Fragen unserer Zeit ist. Entsprechend müssen wir handeln und verhandeln: Es geht nicht um Handel oder gar Tauschhandel, es geht auch nicht um Karriere.

Die Macht der Medien

Es gibt viele Formen der Macht – die militärische ist nur die offensichtlichste. Dass Israel tun konnte, was es in den letzten 54 Jahren den PalästinenserInnen angetan hat, beruht auf einer sorgfältig geplanten Kampagne, die Israels Handeln für gültig erklärt und palästinensisches Handeln abwertet und auslöscht. Es geht nicht nur um die Pflege eines machtvollen Militärapparats, sondern um das Herstellen von Meinung, vor allem in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa. Europa ist seit dem Ende des Kalten Krieges hinsichtlich Meinungs- und Imagebildung praktisch bedeutungslos geworden. Neben Palästina ist deshalb Amerika unser Hauptschlachtfeld. Wir haben aber nie die Bedeutung organisierter politischer Arbeit in diesem Land erkannt. Heute denken die DurchschnittsamerikanerInnen automatisch «Terrorismus», wenn sie «Palästinenser» hören.

Israel konnte ungestraft mit uns umspringen, wie es wollte, weil wir von keiner öffentlichen Meinung geschützt werden, die Scharon an seinen Kriegsverbrechen hindern würde. Angesichts der ungeheuren Verbreitung und der eindringlichen und repetitiven Macht der von CNN ausgestrahlten Bilder ist es grob fahrlässig, nicht selber über ein Team von Leuten wie Hanan Aschrawi, Leila Schahid, Ghassan Khatib oder Afif Safie zu verfügen, die in Washington jederzeit auf CNN oder irgendeinem anderen Kanal die palästinensische Geschichte erzählen, Zusammenhänge erklären und Verständnis wecken können. Dies gäbe uns eine moralische und geschichtliche Präsenz mit positiven statt der ewig negativen Werte. Wir brauchen künftig eine Führung, die diese grundlegende Lektion von moderner Politik im Zeitalter der elektronischen Kommunikation gelernt hat. Sie nicht verstanden zu haben, ist Teil unserer heutigen Tragödie.

Die einzige Supermacht besser kennen

In einer Welt, die von einer einzigen Supermacht beherrscht wird, hat es keinen Sinn, politisch handeln zu wollen, ohne diese Supermacht sehr gut zu kennen. Wir müssen die Vereinigten Staaten, ihre Geschichte, ihre Institutionen, ihre Strömungen und Gegenströmungen, ihre Politik und Kultur kennen lernen – und zuallererst ihre Sprache beherrschen. Zu hören, wie unsere Sprecher oder andere Araber die lächerlichsten Dinge über die USA sagen, sie im einen Satz beschimpfen und gleich darauf um Hilfe bitten, alles in unpassendem und gebrochenem Englisch – das erweckt den Eindruck von erschreckender Inkompetenz und ist zum Heulen.

Amerika ist nicht aus einem Guss, wir haben dort Freunde und solche, die es werden können. Wir müssen sie pflegen, mobilisieren und für unsere Befreiungspolitik nutzen, wie dies im Befreiungskampf Südafrikas oder Algeriens geschah. Nicht alle unter uns haben die Politik der Gewaltlosigkeit begriffen. Wir haben auch nicht verstanden, wie wir die Israeli direkt ansprechen könnten, so wie dies der African National Congress mit den weissen SüdafrikanerInnen getan hat als Teil seiner Politik der Versöhnung und des gegenseitigen Respekts. Koexistenz ist unsere Antwort auf die israelische Ausschliesslichkeit und Kriegsführung. Das ist kein Nachgeben, sondern schafft Solidarität und isoliert die RassistInnen und FundamentalistInnen.

Wir leben noch

Die wichtigste Lektion, die wir über uns selber zu lernen haben, zeigt sich in den schrecklichen Tragödien, die Israel uns derzeit zufügt. Unsere Gesellschaft funktioniert immer noch, trotz Israels wilden Angriffen auf die Palästinensische Autonomiebehörde. Wir sind ein Volk, weil unsere Gesellschaft in den vergangenen 54 Jahren funktioniert hat, jedem Missbrauch, jedem grausamen Kurswechsel der Geschichte, jedem Unglück und jeder Tragödie zum Trotz. Das ist unser grösster Sieg über Israel, und darum sind Scharon und seinesgleichen trotz ihrer Macht und ihrer furchtbaren und unmenschlichen Grausamkeit zum Scheitern verurteilt. Scharon wird als Araber-Killer ins Grab gehen und als politischer Versager, der seinem Volk noch mehr Unruhe und Unsicherheit gebracht hat.

Wir PalästinenserInnen können hingegen sagen, dass wir die Vision einer Gesellschaft hinterlassen, die jeden Versuch überlebt hat, sie umzubringen. Und das ist etwas. Die Generation meiner Kinder und eure Generation kann von hier aus weiterschreiten, kritisch, vernünftig, mit Hoffnung und Nachsicht.

Zum Autor

Edward W. Said war ein in den USA eingebürgerter Literaturwissenschaftler und gehörte zu den international bekanntesten Stimmen der palästinensischen Diaspora.

Er starb am 25. September 2003.