Palästina/Israel: Die visionäre Macht einer einfachen Formel: Grüne Linie als Eiserner Vorhang

Ein Selbstmordattentat wie jenes vom 1. Juni 2001 in Tel Aviv, das zwanzig Menschen tötet, entsetzt. Die Kolonialgeschichte bietet Lektionen über die «hysterische Gewalt».

Die abgebildete Zeichnung ist sehr interessant. Sie erschien in den hiesigen Zeitungen, und sie dürfte zuerst in einer israelischen Zeitung abgedruckt worden sein. Sie zeigt die neueste Karte der Separierung. Separierung ist ein ständig wiederkehrendes Thema der israelisch-palästinensischen Beziehungen. Praktisch jede israelische Führung seit der Begründung der selbst verwalteten palästinensischen Gebiete in der Westbank und Gaza 1993 befasste sich mit diesem Thema, evaluierte und studierte es. Gewöhnlich wird es in der Folge von palästinensischen Selbstmordattentaten lanciert.
Die abgebildete Zeichnung ist ein wenig hysterisch, das macht sie bemerkenswert. Sie widerspiegelt zu einem grossen Teil, wie die führenden israelischen Köpfe die Beziehungen mit den PalästinenserInnen wahrnehmen. Die Zeichnung zeigt die Grenze zwischen palästinensischen und israelischen Gebieten. Diese Grenze, so wie sie die israelische Armee darstellt, wird überwacht durch einen elektrischen Zaun, stationären Radar, mobilen Radar, Videokameras, Hunde, gepanzerte Fahrzeuge, bewaffnetes Personal. Zu sehen sind auch Scheinwerfer. Die Armee hat dann den eindeutigen Befehl, auf jedeN zu schiessen, der oder die dem elektrischen Zaun näher als dreissig Meter kommt. Zu sehen ist auch, dass dieser dreissig Meter breite Streifen in den palästinensischen Gebieten liegt. Kaum nötig zu erwähnen, dass diese Grenze «Grüne Linie» genannt wird.

Das Gefühl von Freiheit

Diese Karte zeigt die Entschlossenheit der Israeli, die Besetzung aufrechtzuerhalten. Es scheint, dass die Besetzung nicht zur Debatte steht. Alles ist nur eine Frage der verbesserten Kontrolle über die palästinensischen Leben. Die Israeli haben bewiesen, dass sie sehr einfallsreich und wirklich kreativ Wege improvisieren können, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, sie lebten frei, obwohl sie das gar nicht tun. Wenn ich «die Israeli» sage, dann meine ich jene Mehrheit der Israeli, die als Antwort auf die zunehmenden Forderungen und Kämpfe der PalästinenserInnen um Freiheit und Unabhängigkeit Ariel Sharon gewählt haben. Der neu gewählte Premierminister steht für die Massen eindeutig für eine Ordnung, die alles Jüdische bevorzugt, und für ein Programm von Annexionen und Erweiterung der Siedlungen. Er verkörpert die Besatzungsmaschinerie in Hochform, und die Mehrheit der Israeli wählte sie. Ich bin zwar vielen Israeli begegnet, die anders denken. Menschen, die ehrlich meinen, dass die Besetzung enden muss, bevor Friede sein kann. Aber diese Menschen sind marginalisiert, und sie sind nicht viele, in diesen Zeiten.

Vor sieben Jahren, als in der Folge der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen ein Zustand von Euphorie praktisch jede in den Nahost-Konflikt involvierte Person überwältigte, warnte uns Edward Said. Er schrieb, dass dieses Friedensabkommen nicht von Dauer sein werde, ganz einfach deshalb, weil es die Besetzung nicht beendet. Was Said vorbrachte, war keine radikale Idee. Eher eine einfache Formel, die von ehrlichen Frauen und Männern akzeptiert werden kann: kein Friede ohne Ende der Besetzung. «Werden sich die Palästinenser in den besetzten Gebieten auf lange Sicht mit der Unterwürfigkeit und Unfähigkeit ihrer Führer sowie der andauernden Ungerechtigkeit eines Besatzungsregimes und seines weitgesponnenen Netzes kolonialer Siedlungen abfinden? (...) Werden die im Gaza-Jericho-Abkommen festgelegten Enklaven unter dem Druck von Elend und Hoffnungslosigkeit zusammenbrechen? Wird sich aus den Reihen der Palästinenser eine neue Vision, eine neue Führung erheben und einen Sammelpunkt für erneute Hoffnung und Entschlossenheit bieten? Das sind Fragen, die im Augenblick niemand beantworten kann.»1)

Einseitiger Durchblick

Doch heute können wir sie beantworten. Nach sieben Jahren mit Gott weiss, wie vielen getöteten oder verletzten, deprimierten, frustrierten und vor Angst kranken Seelen können wir sehen, dass diese einfache Formel sich als mächtiger und visionärer herausstellte als jedwelcher Plan, selbst wenn er von den Händen der Mächtigen im Weissen Haus verfasst wird. Besetzung und Rassismus lassen sich ganz einfach nicht verstecken.

Aber sie versuchten es. Ich erinnere mich an meine aufkommende Freude, als ich über die Allenby-Brücke aus den israelisch besetzten Gebieten nach Jordanien ging, um zum ersten Mal in meinen Leben, im Alter von über dreissig, meine Halbbrüder und -schwestern zu besuchen. Eine Reihe von palästinensischen Polizeioffizieren stand an der Passkontrolle. Sie nahmen den palästinensischen Reisenden die Pässe ab und gaben sie durch ständig geöffnete, schubladenartige Durchreichen nach oben. Die palästinensischen Polizeioffiziere standen vor einem grossen Aufbau aus Glas, worin, auf einer höheren Stufe, israelische Offiziere sassen, die alles beobachten konnten. Die Scheiben, hinter denen sie sassen, waren getönt, so dass man nur von einer Seite aus durchsehen konnte. Die israelischen Offiziere konnten also die palästinensischen Reisenden beobachten und gleichzeitig auch die palästinensische Polizei. Ein Offizier reichte meinen Pass weiter und forderte mich auf, gerade nach oben zu schauen. Ich fragte, warum. «Damit sie Ihr Gesicht sehen kann», antwortete er mir.

Weiter erinnere ich mich an meinen ersten Schock in einer palästinensischen Poststelle. Damals, 1995, wollte ich eine Videokassette an ein Festival schicken. «Das können Sie nicht von hier aus abschicken», sagte mir ein Angestellter. Es zeigte sich, dass die Abkommen der palästinensischen Post nicht erlaubten, Pakete mit über hundert Gramm Gewicht zu befördern. Der Angestellte schickte mich zu einer israelischen Poststelle. Doch um nach Jerusalem zu gehen, braucht es eine Erlaubnis; man kann sich demnach vorstellen, was es heisst, so eine alltägliche Aufgabe zu erledigen.

Das Bombenattentat gegen die Disco in Tel Aviv am 1. Juni hat mich entsetzt. Ich kenne dieses Viertel in Tel Aviv, und ich verbrachte manchen schönen Abend dort. Ich kann mir sogar vorstellen, an diesem Abend selber in der Warteschlange vor dem Eingang der Disco gestanden zu haben, denn ich mag Discos, und ich mag die Menschenmenge darin. Doch ich kann mir nicht vorstellen, mich dort in die Luft zu sprengen. Obwohl ich Palästinenser bin. Aber Gewalt ist das Mittel der Besetzung, und die Besetzung ist die Brutstätte der Gewalt. «Die Gewalt des Kolonialregimes und die Gegengewalt des Kolonisierten halten sich die Waage und entsprechen einander in einer ausserordentlichen Homogenität»2), schrieb Frantz Fanon vor beinahe fünfzig Jahren – es war die Zeit der palästinensischen Agonie – in seinem brillanten Essay über koloniale Gewalt. «In Indochina, in Madagaskar, in den Kolonien hat der Eingeborene immer gewusst, dass er von der anderen Seite nichts zu erwarten hat. Die Arbeit des Kolonialherrn ist es, selbst die Freiheitsträume des Kolonisierten unmöglich zu machen. Die Arbeit des Kolonisierten ist es, sich alle nur möglichen Kombinationen zur Vernichtung des Kolonialherrn auszudenken. Der Manichäismus der Kolonialherrn erzeugt einen Manichäismus des Kolonisierten. Der Theorie vom ‘Eingeborenen als absolutem Übel’ antwortet die Theorie vom ‘Kolonialherrn als absolutem Übel’.»3)

Die Quintessenz des Bösen

Israelische und amerikanische PolitikerInnen sehen die ganze Krise als «palästinensische Gewalt», als hysterische, verrückte, wilde, zusammenhangslose Gewalt, ohne Grund und Sinn; oder, wie wiederum Fanon schrieb: «Die Infragestellung der kolonialen Welt durch den Kolonisierten ist keine rationale Konfrontation von Gesichtspunkten. Sie ist keine Abhandlung über das Universale, sondern die wilde Behauptung einer absolut gesetzten Eigenart. Die koloniale Welt ist eine manichäische Welt. Dem Kolonialherrn genügt es nicht, den Lebensraum des Kolonisierten physisch, das heisst mit Hilfe seiner Polizei und seiner Gendarmerie, einzuschränken. Wie um den totalitären Charakter der kolonialen Ausbeutung zu illustrieren, macht der Kolonialherr aus dem Kolonisierten eine Art Quintessenz des Bösen. (...) Der Eingeborene, heisst es, ist für die Ethik unerreichbar (...).»4)
Die israelische Tonlage in den Medien und der Politik war in der Geschichte auch schon zu hören: das Donnern von Macht, Überlegenheit und Herrschaft. Aber die Geschichte lehrt, dass das seine Konsequenzen hat – lesen Sie dies: «Nicht Gleichheit wollen wir, sondern Herrschaft. Die Länder fremder Rasse müssen wieder zu Sklave, Tagelöhner und Industriearbeiter werden. Es handelt sich nicht darum, die Ungleichheit unter den Menschen abzuschaffen, sondern sie zu verstärken und ein Gesetz daraus zu machen.»5) So zitierte Aimé Césaire in seinem ausgezeichneten Buch über Kolonialismus Hitler. In diesem ebenfalls vor etwa fünfzig Jahren geschriebenen Buch schildert Césaire die Auswirkungen des Kolonialismus auf die Gesellschaft und die Zivilisation der Kolonisatoren. «Man müsste zunächst untersuchen, wie die Kolonisation daran arbeitet, den Kolonisator zu entzivilisieren, ihn im wahren Sinne des Wortes zu verrohen, ihn zu degradieren, verschüttete Instinkte, die Lüsternheit, die Gewalttätigkeit, den Rassenhass, den moralischen Relativismus in ihm wachzurufen.»6)

Informiert, engagiert, entschlossen

Die Besetzung fordert ihren Preis von Besatzern und Besetzten, und die Geschichte bietet genügend Lektionen für die, die lernen wollen. Die Verewigung einer solchen Situation verschlimmert die Gewaltzyklen. Soweit ich von der jungen Generation der PalästinenserInnen Bescheid weiss, halte ich sie für informierter, engagierter und entschlossener als diejenigen von vor zehn, zwanzig oder dreissig Jahren. Die junge Generation ist unterdessen wichtiger geworden als ihre Führung. Die Flüchtlingslager sind voll mit RückkehrerInnen, die in den USA oder in Europa studiert haben. Und sie sind voll mit Arbeitern, die die jüdischen Siedlungen mit den roten Ziegeldächern gebaut haben; die über Jahrzehnte hinweg täglich zwischen ihren verfallenen Flüchtlingslagern und dem Prunk der Siedlungen pendelten. Vor sieben Jahren, als alle Augen auf die lächelnden Politiker und den Handschlag, der Frieden zwischen Israeli und PalästinenserInnen bringen sollte, gerichtet waren, blickte Edward Said hinter die Bühne auf dem Rasen des Weissen Hauses (Said war nicht anwesend; er war zwar eingeladen, lehnte es aber ab, der Zeremonie beizuwohnen). Er schrieb an genau die Menschen, von denen er wusste, dass sie diesen Handel früher oder später nicht mehr annehmen werden: «Was wir aber jetzt schon sagen können, ist, dass keinerlei Programm, kein Plan, kein Handel, kein aufgezwungener ‘Friedensprozess’ unsere Alternativen vollständig zerstören kann. Als Palästinenser bin ich der Auffassung, dass wir an uns selbst als ein Volk glauben müssen, das noch wichtige Reserven aufzubieten hat, die zur Hoffnung berechtigen. Und als Palästinenser und Araber müssen wir uns daran erinnern, dass unser Wunsch, miteinander und mit unseren Nachbarn in friedlicher Koexistenz zu leben, nicht von blinder Loyalität zu einer oder vielleicht zwei Personen getragen sein kann, sondern nur von einem fest verwurzelten Glauben an wirkliche Gerechtigkeit und wirkliche Selbstbestimmung.»7)

1 Edward W. Said: «Frieden in Nahost?». Palmyra Verlag. Heidelberg 1997. Seite 37. Die englische Originalausgabe «Peace and its Discontents» wurde nach Erscheinen durch die Palästinensische Autonomiebehörde verboten.
2 Frantz Fanon: «Die Verdammten dieser Erde». Suhrkamp Taschenbuch. Frankfurt a.M. 1966. Seite 74.
3 ebd. Seite 76.
4 ebd. Seite 34.
5 Aimé Césaire: «Über den Kolonialismus». Rotbuch 3. Wagenbach Berlin 1955, 1968. Seite 13.
6 ebd. Seite 10.
7 Edward W. Said: a. a. O. Seite 38.