Vorbild Schweiz: Kopfgeldjagd
In Deutschland wollen eifrige ReformerInnen von rechts die soziale Finanzierung des Gesundheitswesens durch Lohnprozente abschaffen und dafür Kopfpauschalen einführen.
In Deutschland ist allenthalben von Reformstau die Rede. Die Diagnosen lauten ähnlich wie in der Schweiz: Die Staatsquote sei zu hoch, ein zu komfortables Sozialsystem verführe zu Missbrauch; Bundeskanzler Schröder ortet sogar eine «Mitnahmementalität». Einige der deutschen Radikalreformer blicken nun ausgerechnet nach Süden über den Rhein, wenn es um die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) geht. Und da ist die Schweiz dem Rest Europas ein paar Schritte voraus – in Richtung Sozialabbau.
Anfang dieses Jahres trat in Deutschland das «Gesundheitsmodernisierungsgesetz» in Kraft, auf das sich die Regierung mit der Opposition verständigt hatte. Es soll die GKV sanieren und die Kosten im Gesundheitswesen sowie die Arbeitskosten senken. Seit Januar müssen PatientInnen für Praxisgebühr, Medikamente, Brillen, Krankengymnastik und andere Behandlungen tiefer in die Tasche greifen. Neun Milliarden Euro sollten die Zuzahlungen nach ersten Berechnungen zusätzlich ins System spülen. Mittlerweile sind die Erwartungen auf vier Milliarden herunterkorrigiert. Letztlich dürfte sogar noch weniger auf der Habenseite der Krankenkassen bleiben. Denn erstens machen sich die Befreiungen (niemand soll mehr als zwei und chronisch Kranke maximal ein Prozent ihres Einkommens an direkten Zahlungen aufbringen müssen) im Verlauf eines Jahres zunehmend bemerkbar. Und zweitens war der Verwaltungsaufwand für die Kassen, den die Befreiungsregelungen mit sich bringen, zu tief veranschlagt. Die Kassenangestellten leisten seit Monaten Überstunden, um die wachsende Zahl von Fällen zu bearbeiten.
Für die Reformen, die nun dem «Modernisierungsgesetz» folgen sollen, zauberte die oppositionelle CDU ein Kopfpauschalenmodell aus dem Hut. Mit der üblichen Nonchalance Konservativer propagiert sie nun den Einheitsbeitrag als Durchbruch auf dem Weg zur nachhaltigen Sicherung des Standortes Deutschland. Denn bisher zahlen Krankenversicherte in Deutschland Lohnprozente – anders als in der Schweiz, wo der Versicherungsbeitrag nur vom Wohnort und der gewählten Versicherung, nicht aber vom Einkommen abhängt. Auch sonst hat die Schweiz Deutschland einiges «voraus»: Hier zahlen die PatientInnen längst einen Festbetrag pro Jahr (Franchise) sowie ein Zehntel, vielleicht bald ein Fünftel der Arzt-, Therapie- und Medikamentenrechnungen («Selbstbehalt», maximal 700 Franken) selber – beim Zahnarzt gar die ganze Rechnung.
In der Schweiz hat man sich an Kopfpauschalen gewöhnt. Doch in Deutschland befürwortet eine breite Mehrheit der Bevölkerung die solidarische Verteilung der Kosten, die sich in der 120-jährigen Geschichte der sozialen Krankenversicherung bewährt hat. In klarem Gegensatz zur veröffentlichten Meinung sind vier Fünftel der BundesbürgerInnen dafür, dass die Reicheren für die Armen, die Jungen für die Älteren, Beschäftigte für Erwerbslose und Männer für Frauen mitbezahlen. Die Mitversicherung von Familienmitgliedern ohne eigenes Einkommen und von Kindern findet immerhin bei zwei Dritteln Zustimmung. Junge, gesunde Menschen, die mehr bezahlen als herausbekommen, sind dabei am meisten vom Solidarprinzip überzeugt.
Die einkommensabhängige Beitragsgestaltung trägt besonders zu sozialer Gerechtigkeit bei. Dieses bewährte und akzeptierte Prinzip wollen nun die Gesundheitssystem-ModernisiererInnen aufkündigen, indem sie eine vom Einkommen losgelöste Einheitspauschale für die deutsche GKV propagieren. Ein staatlicher Zuschuss an die Krankenkassenbeiträge ist erst dann vorgesehen, wenn diese 12,5 Prozent des Einkommens übersteigen. Damit fiele die Belastung der unteren Einkommen deutlich höher aus als in der Schweiz. Egal, ob diese Subvention aus Steuermitteln oder einer einkommensabhängigen Mehrabgabe für Besserverdienende erfolgt, gegenüber dem derzeitigen System ist die Kopfpauschale erheblich ungerechter.
Hinter derartigen Vorschlägen steht das alles beherrschende Dogma der standortspezifischen Lohnkostenanteile, meist «Lohnnebenkosten» genannt. Mainstream-ÖkonomInnen sehen darin ein Hemmnis für den internationalen Wettbewerb und den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit. Wenn die Arbeit nur billig genug ist, stellten die UnternehmerInnen auch wieder ein. Doch diese These beruht auf einer massiven Überschätzung der Auswirkungen von Sozialabgaben auf die Weltmarktprodukte: Der ArbeitgeberInnenanteil für die Krankenversicherung macht nur einen Bruchteil der Herstellungskosten aus. Die unterstellte Verbesserung der (ohnehin guten) Exportlage gehört ins Reich der Mythen und Legenden, die sich entgegen aller Empirie durch die sozialpolitische Debatte ziehen.
Auch in der Schweiz tragen die lohnunabhängigen Krankenkassenbeiträge und hohen Eigenbeteiligungen nicht zu einer Begrenzung der Gesundheitskos-ten bei. Dafür entziehen sie einer wachsenden Zahl von SchweizerInnen die Existenzgrundlage: Nach einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fällt einer von 30 Haushalten wegen Krankenkassenbeiträgen oder Zuzahlungen unter die Armutsgrenze. In Belgien ist es nicht einmal eine von 400, in Schweden eine von 250 und in Deutschland eine von 190 Familien.
Feste, einkommensunabhängige Versicherungsbeiträge führen zu einer hohen Belastung der Haushalte mit geringerem Einkommen und treffen besonders die Versicherten, deren Einkommen knapp über der Subventionsgrenze ihres Heimatkantons liegt, die also keinen Anspruch auf Zuschuss zum Versicherungsbeitrag haben. Direktaufwendungen im Krankheitsfall, die zwischen 1996 und 2001 um satte 42,9 Prozent stiegen, stellen wirtschaftlich schwache Familien vor hohe und teilweise ruinöse finanzielle Belastungen.
Der unsozialen Kopfpauschalenidee setzt die deutsche Bundesregierung das wesentlich gerechtere Modell der «Bürgerversicherung» entgegen. Bisher können sich Besserverdienende (mehr als 3850 Euro im Monat) und Beamte dem Solidarsystem entziehen und in eine Privatkrankenkasse wechseln. Das beschränkt die Solidarität auf mittlere und untere Einkommensgruppen, was nicht nur bei Linken auf Kritik stösst, sondern was KopfpauschalisiererInnen und PrivatisiererInnen gerne als Vorwand dient, gleich das ganze System abzuschaffen. Da wird auch gerne von einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen geredet, die es gar nicht gibt. Der Kern des Problems liegt auf der Einnahmeseite, denn das bestehende System finanziert sich ausschliesslich aus den Arbeitseinkommen. Deren Anteil am Inlandsprodukt aber sinkt kontinuierlich, während Mieteinnahmen, Aktiengewinne und andere Kapitalerträge bereits mehr als die Hälfte des Volkseinkommens ausmachen.
Die Bürgerversicherung soll nun – wie die Grundversicherung in der Schweiz – für alle EinwohnerInnen verpflichtend sein. Entscheidend daran ist aber, dass sie im Gegensatz zum schweizerischen System an das Einkommen gekoppelt bleiben und nun auch alle anderen Einkommensarten einbeziehen soll. Noch sind die Modalitäten unklar, technische Umsetzungsprobleme und Widerstand aller erdenklichen Interessengruppen wetteifern um öffentliche Aufmerksamkeit. Während die christdemokratische Kopfpauschale das Solidarsystem der GKV auf den Abfallhaufen der Geschichte befördern will, bietet die Bürgerversicherung Ansätze zur Wahrung und sogar zum Ausbau der bestehenden Umverteilungsmechanismen.
Der vage Glaube, man könne die Wirtschaft ankurbeln und die Arbeitslosigkeit mildern, rechtfertigt nicht den Verzicht auf sozialen Ausgleich. Schon gar nicht in Zeiten zunehmend ungleicher Einkommensverteilung.◊
Semantische Verwirrung
Die deutschen Christdemokraten begannen ihren Frontalangriff auf das gewachsene Sozialversicherungssystem mit einem semantischen Fehlgriff. Nachdem die Parteivorsitzende Angela Merkel die Idee von der Kopfpauschale durch den Parteitag gejagt hatte, als die meisten noch gar nicht verstanden hatten, worum es ging, tauchte allerorten das Schlagwort «Kopfpauschale» auf. Die McKinsey-TechnokratInnen hatten nicht nur das Konzept entwickelt, sondern der CDU das hässliche Wort ins Programm geschrieben. Doch dann merkten die ParteistrategInnen, dass es eher nach Kopfab denn nach einem überzeugenden Finanzierungskonzept für die gesetzliche Krankenkasse klang. Und zauberten einen genialen ideologischen Kampfbegriff aus dem Ärmel: «Gesundheitsprämie».
In der Schweiz dürfte das kaum jemanden erstaunen: Hier ist der Begriff «Krankenkassenprämie» so verwurzelt, dass niemandem mehr die eigenartige Wortverwendung auffällt. Aber in der deutschen Sprache ist eine Prämie etwas, was man bekommt – als Belohnung, Auszeichnung, Gewinn. Wer im Versicherungsgeschäft etwas erhält, ist die Krankenkasse. Und die ist es auch, die beim «Selbstbehalt» etwas behält. Wenn diese Begriffe nun zunehmend die Debatte bestimmen, zeigt das nur eins: Die Perspektive der Versicherungsunternehmen setzt sich gegen die der VerbraucherInnen durch. Vergleichbar fatal ist der Begriff der «Lohnnebenkosten», der suggeriert, Sozialabgaben seien eine zusätzliche Wohltat des Unternehmers und kein Bestandteil der Bezahlung. Gleichzeitig findet dabei eine bewusste Einengung auf Sozialabgaben statt, obwohl diese insgesamt nur ein Viertel der Lohn«neben»kosten ausmachen – der überwiegende Teil entfällt auf betriebliche Fortbildung, Urlaubsgeld, andere tarifliche Vereinbarungen sowie auf Entschädigung bei Entlassungen.