Abstimmung über Prämienentlastung: Ein Ja gegen die Rückständigkeit
Bis vor dreissig Jahren standen hierzulande Hunderttausende Menschen ganz ohne Krankenversicherung da. So waren 1994 die Einführung des Krankenkassenobligatoriums und der Prämienverbilligungen für einkommensschwache Haushalte ein enormer Fortschritt.
Gleichzeitig verhinderten bürgerliche Parteien und Verbände, dass die Solidarität nicht nur zwischen Geschlechtern und Generationen, sondern auch zwischen den Einkommensklassen Einzug hätte halten können: Die Kopfprämien blieben ebenso im Krankenversicherungsgesetz (KVG) verankert wie der Pseudowettbewerb der Kassen. Und so muss auch heute noch eine Verkäuferin eine gleich hohe Prämie zahlen wie ein Chefarzt, eine Bankdirektorin nicht mehr als ein Bauarbeiter.
Die bisherigen Prämienverbilligungen reichen schon lange nicht mehr, um zu garantieren, was vor der Einführung des neuen KVG vom Bundesrat versprochen wurde: dass kein Haushalt mehr als acht Prozent seines verfügbaren Einkommens für Prämien ausgeben muss. Heute sind es im Schnitt über vierzehn Prozent – Prämienverbilligungen eingerechnet. Mitverantwortlich dafür sind zahlreiche Kantone, die ihre Prämienverbilligungen in den letzten zehn Jahren gar reduziert haben – obschon die Prämien im Vergleich zu den Löhnen derart gestiegen sind, dass Vergünstigungen zunehmend auch für Menschen mit mittleren Einkommen nötig wären. Pech gehabt, wer knapp zu viel verdient, um solche Entlastungen zu erhalten – aber zu wenig, um die steigenden Kosten tragen zu können.
Das reichste Land Europas ist in seiner Rückständigkeit ein gesundheitspolitischer Sonderfall. Derweil in den EU-Staaten im Schnitt rund 80 Prozent der Gesundheitskosten einkommensabhängig (über Lohnprozente oder Steuern) finanziert werden, sind es in der Schweiz gerade einmal 36 Prozent. 2023 verzichtete laut dem Umfrageinstitut Sotomo fast jede:r fünfte Erwachsene aus finanziellen Gründen auf eine medizinische Abklärung oder Behandlung. Was bringt da eines der weltbesten Gesundheitssysteme, wenn es für immer mehr Menschen kaum bezahlbar ist?
Das Versprechen, dass sich alle eine genügende Gesundheitsversorgung leisten können, ist nicht eingelöst.
Mit einem Ja zur Prämien-Entlastungs-Initiative am 9. Juni käme die Schweiz diesem Versprechen ein wenig näher. Der Vorschlag, die Prämienverbilligungen durch zusätzliche Beiträge von Bund (zu mindestens zwei Dritteln) und Kantonen so auszubauen, dass kein Haushalt mehr als zehn Prozent seines verfügbaren Einkommens für Prämien ausgeben muss, ist moderat. Selbst damit wäre das hiesige Gesundheitswesen innerhalb der OECD noch immer vergleichsweise asozial – zumal die Menschen hierzulande zusätzlich zur Prämie auch noch Franchise, Selbstbehalt und nicht versicherte Leistungen (etwa zahnmedizinische Behandlungen) selber zahlen müssen.
Den bürgerlichen Parteien und Verbänden ist das offenbar egal. So gab der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse unlängst zwar bekannt, aus der Niederlage bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente lernen zu wollen. Nicht aber etwa, indem er gedenken würde, sich endlich mit der sozialen Realität auseinanderzusetzen – sondern indem er das Jahresbudget für seine Kampagnen verdoppelt: zehn weitere Millionen Franken für die Verbreitung seiner Schauermärchen. So gibt Economiesuisse den Versicherten die Hauptschuld an den gestiegenen Kosten. Dass nicht zuletzt die Pharmalobby vernünftige Kostensenkungen verhindert, darüber schweigt der Verband.
Gegen die Prämien-Entlastungs-Initiative hantiert Economiesuisse wieder einmal mit dem «Mittelstand» als irreführendem Kampfbegriff, indem er die Interessen der oberen Mittel- und der Oberschicht als die der grossen Mehrheit verkauft. So will er der Bevölkerung weismachen, eine Ausweitung der Prämienentlastungen führe generell zu einer übermässigen Steuerbelastung. In Tat und Wahrheit jedoch müssten vor allem der obere Mittelstand und die Oberschicht mehr beitragen. Die Bevölkerung als Ganzes würde die Umsetzung der Initiative keinen Rappen mehr kosten. Die Kosten wären einfach etwas gerechter verteilt.
Kommentare
Kommentar von kusto
Do., 30.05.2024 - 21:52
Zum NZZ Artikel von Herrn Eisenring am 22.04.2024
Lache, wenn es nicht zum Weinen reicht!
In einem Refrain eines Grönemeyer Liedes steckt die Aufforderung: «Lache wenn es nicht zum Weinen reicht!» Kein Tag vergeht wo die NZZ ihre Leserschaft nicht mit Informationen über unsere gefährdete Krankenversicherung zuschüttet. Ist die Angst vor einem zweiten Fanal nach der Abstimmung über die AHV so gross? Eine ganze Seite widmet der Wirtschaftsjournalist der NZZ unter der Rubrik: Meinung & Debatte über das «Buffet à discrétion» unseres Gesundheitswesens. Natürlich hat er recht – wenn er nicht den Bock zum Gärtner gemacht hätte. Er wundert sich mit vielen seiner wirtschaftsliberalen Zunft, dass das Mengenwachstum zu einem grossen Problem geworden ist und wir Konsumenten dieses Angebot frecher Weise auch noch in Anspruch nehmen, das meistens von einem Arzt empfohlen oder sogar verordnet wurde. Ich weiss nicht ob man tatsächlich ein paar Semester Betriebswirtschaft oder Volkswirtschaft studiert haben muss um zu diesem Urteil zu kommen. Jedenfalls kann mit einem kritischen Blick auf die Dinge ein total anderes Bild aufscheinen. Der Artikel strotzt nur so von hinkenden Vergleichen zum Beispiel wie viel höher die Lebenserwartung in den letzten rund 30 Jahren gestiegen sei und als Höhepunkt wird dem Leser, der Leserin die Suggestivfrage serviert ob sie das Gesundheitswesen der 1990er Jahre zurück wollten oder die etwas teurere heutige Medizin? – Geht es nicht noch einen Zacken zynischer? Mit grosser Überzeugung rufe ich ihm zu: «Ich will die Prämie von maximal 10% des Einkommens mit der modernen Medizintechnik!» Klar verhindert das ein Kostenwachstum nicht, aber es zwingt unsere Volksvertretung zum Handeln das sie seit Jahrzehnten nicht liefern. Die Prämien fühlen sich heute an wie eine Gesundheitssteuer und Steuern werden progressiv zum Einkommen erhoben. Aber Herr Eisenring ist noch nicht fertig und haut uns die knallharten Zahlen um die Ohren, die definitiv beweisen, dass wir mit dem heutigen System viel besser fahren. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf in demselben Zeitraum (also in den letzten 30 Jahren) sei um 30’000 CHF angestiegen. Leider fragt er sich nicht welche Einkommensklasse davon überdurchschnittlich profitiert hat. Er resümmiert nur süffisant, dass also noch viel Geld übrig geblieben sei, wenn man bedenke dass «der typische Schweizer Haushalt» bei einem Einkommen von fast 10'000 CHF pro Monat noch 1700 Franken auf die hohe Kante lege und dabei die Ferien schon bezahlt seien. Etwas verwundert fragt man sich bei dieser aufpolierten Zahlenstatistik wie hoch das Einkommen eines NZZ-Journalisten denn etwa sein könnte? Aber spätestens bei dieser Zahlenakorobatik misstraut der kritische Geist den herumgewirbelten Zahlen. Kein Wort über einen inexistenten Markt. Kein Wort über die exorbitante Teuerung der Pharma. Nichts über die Kantone, die Ärzteschaft, die Privatkliniken und die rund 60 Krankenkassen mit 60 Administrationen, den Gesundheitsökonomen und Anwälten, die nicht nur das Wohl der Patienten und Patientinnen im Blickfeld haben sondern vor allem klare Vorstellungen über ihren eigenen Profit. Umsomehr sollten die Versicherten sich um eine billigere Kasse kümmern in einem weitgehend nicht vorhandenen Markt. Wem ob soviel Zynismus nicht zum Weinen ist, sollte wenigstens darüber Lachen.