Wer sind die Täter?: Die Frauenmörder von Ciudad Juárez

Fast alle waren unter zwanzig Jahre alt, hatten langes Haar und waren schlank. Vor allem aber waren sie arm. Über vierhundert junge Mädchen, auf diediese Beschreibung passte, wurden ermordet. Noch mal so viele werden vermisst. Wer sind die Täter?

Mexiko Fast alle waren unter zwanzig Jahre alt, hatten langes Haar und waren schlank. Vor allem aber waren sie arm.
Über vierhundert junge Mädchen, auf die diese Beschreibung passte, wurden ermordet. Noch mal so viele werden vermisst.
Wer sind die Täter? Von Anne Huffschmid, Ciudad Juárez
Die Frauenmörder von
Ciudad Juárez
Die Lichter funkeln in der Nacht, das Auto schnurrt über den Highway, immer geradeaus im samtenen Dunkel. «Ich liebe diese Stadt», sagt Marisela und schaut über das Lenkrad nach vorne. «Wo sonst kannst du den Sand jeden Tag aufs Neue in Bewegung sehen?» Doch, sie möchte für immer hier leben. Dann ein prüfender Blick in den Rück­spiegel. Sind sie noch da, oder haben wir sie etwa abgehängt? Sie bremst ab und wartet, bis der schwarze Wagen wieder auftaucht. Schon ein paar Monate lang wird die Lehrerin Marisela
Ortiz verfolgt. Von Bundespolizisten. Darum hatte sie selbst gebeten. Seit vor drei Jahren ihre Lieblingsschülerin
Lilia Alejandra ermordet wurde, ist ihre Heimat für sie zur Kampfzone geworden.
Ciudad Juárez, die Monsterstadt? Die ihre Töchter mordet, ihre Jugend im Drogensumpf ersäuft, wie in den Zeitungen geschrieben steht, die Polizisten zu Kriminellen und Politiker zu Komplizen macht? Fast vierhundert junge Frauen starben hier in den letzten elf Jahren eines gewaltsamen Todes. Genauso viel gelten als verschwunden. ­Juárez, seelenlose Wüstenstadt an der Nordgrenze Mexikos, Nadelöhr nach Gringolandia, die Bilder von hölzernen Kreuzen und weinenden Müttern um die Welt geschickt hat.

Die Mutter
Norma Andrade weint nicht. Oder gerade nicht. Denn es passiere ihr ständig, sagt Norma, dass sie «aus heiterem Himmel» in Tränen ausbreche. Daher haben die Behörden ihr auch «emotionale Instabilität» bescheinigt und ihr mitgeteilt, dass sie ihre Enkelkinder Kalep und Jade nicht adoptieren dürfe. «Das hätte ich mir auch selbst bescheinigen können!» Ihre Stimme dröhnt, der füllige Leib vibriert. Instabil ist ein hübsches Wort für den Zustand, in den eine Mutter abgleitet, wenn ihr die siebzehnjährige Tochter erwürgt und verstümmelt dargeboten wird. Eine Woche war Lilia Alejandra wie vom Erdboden verschluckt, dann fand man ihren Körper halb nackt in ein Stück Stoff gewickelt, entsorgt wie Dreck, mit misshandeltem Geschlecht.
«Sie hat mich in den Irrsinn getrieben mit ihrem Dickkopf!» Immer und überall habe die Tochter Fotos machen müssen. Habe altkluge Reden geschwungen, unaufhörlich glühende Gedichte verfasst und sich über die Schuluniform ereifert. Die erste Liebe und gleich schwanger. Sie habe es darauf angelegt, sagt Norma, «sie kannte ja alle Verhütungsmethoden». Das junge Familienglück zerbricht schon nach wenigen Monaten, dennoch gebiert sie kurz darauf noch einen Sohn, Kalep. Der Alltag wird härter, unter der Woche geht Lilia Alejandra auf die Abendschule, am Wochenende in die Fabrik. Als seine Mutter an jenem Abend verschwand, auf dem Heimweg nach Feierabend, war Kalep fünf Monate alt.

Der Unternehmer
«What the hell is going on here?» – was zum Teufel geht hier ab? Die Empörung ist Donald Labbruzzo noch heute anzuhören. Auf einem brachliegenden Feld vor seiner Fabrik Plasticos Promex, einem grauen Betonquader direkt unter der Stadtautobahn, war der Leichnam von Lilia Alejandra damals abgeladen worden. Wie Gerichtsmediziner feststellten, muss sie nach ihrem Verschwinden noch vier qualvolle Tage lang gelebt haben. Bis dahin hatte der smarte US-Unternehmer der Mordserie wenig Beachtung geschenkt. Zwar war bekannt, dass ein Teil der Mädchen in den Maquiladoras, den rund 300 ausländischen Weltmarktfabriken rund um ­Juárez, gearbeitet hatte. Für einen Bruchteil der US-Löhne – bei Labbruzzo für achtzig US-Cent die Stunde – montieren junge Mexikanerinnen in Zwölf-Stunden-Schichten Elektrogeräte, nähen Textilien oder stapeln Plastikteile. Bis dahin kamen die Opfer aus einer anderen Welt, arme Mädchen eben, die wohl leichtsinnig lebten, deren Röcke vielleicht zu kurz waren. Nun hatte es eine getroffen, die man kannte.
Labbruzzo tat etwas für seine Branche Ungewöhnliches: Er machte den Mund auf. Ein privates E-Mail an Unternehmerfreunde stand tags darauf in allen Zeitungen, kurz danach sass der Landesstaatsanwalt in seinem Büro und versicherte, dass alles aufgeklärt werde. Doch nichts geschah. Labbruzzo setzte eine Belohnung aus, 25 000 US-Dollar. «In den USA kann man die Information ja auf diese Weise kaufen», sagt er. In Juárez aber habe sich niemand gemeldet. Also ist andernorts «noch mehr Geld im Spiel». Und Angst. Der Unternehmer hat aufgegeben, über Drohungen gegen seine Familie will er nicht mit der Presse sprechen. Natürlich seien die Killer mit den allmächtigen Drogenkartellen verbandelt. Dass es sich dabei um Söhne reicher Unternehmerfamilien handeln könnte, hält er jedoch für «Blödsinn». Ganz so, als ob Reichtum in der Anderthalb-Millionen-Stadt ohne jede Berührung mit den Drogenmafias überhaupt möglich sei.

Die Reporterin
In Ermangelung von Fakten blühen seit Jahren makabre Spekulationen um Organhandel, Snuff-Pornos oder narcosatanische Riten gut situierter US-Kunden. Für all die Gerüchte, die dem Morden fast etwas Mythisches verleihen, gibt es keine Grundlage. Die Reporterin Diana Washington, die den Fall seit vier Jahren für die US-amerikanische «El Paso Times» recherchiert, ist hingegen überzeugt, dass es sich um «blood sport», eine Art Freizeitvergnügen der Yuppies und mittleren Chargen aus dem weiteren Umkreis der Drogeneliten handelt. Keine Einzeltäter, eher ein loses Netz aus Banden, Schleppern und uniformierten Helfershelfern, die die Beute an öffentlichen Plätzen aussuchen und heranschaffen. Viele der Ermordeten waren zuletzt in Bars oder auf der Strasse, vor bestimmten Computerschulen oder Fabriktoren gesehen worden. «Da wird offenbar ein ganz bestimmter Frauentyp gezielt bestellt», vermutet der Fotograf Miguel Perea, der seit über zwanzig Jahren Gewaltverbrechen in Juárez fotografiert. «Das ist wie bei gestohlenen Autos, deren Diebstahl wird ja auch nach Marke in Auftrag gegeben.»
Bei der Recherche setzt Diana
Wa­shington, die seit mehr als zwanzig Jahren über die Drogenszene im
Grenzland berichtet, auf ihre engen Kontakte zu mexikanischen Ermittlern und zum FBI. Denn es ist ja nicht so, dass gar nicht ermittelt würde. Dutzende von Insidern wurden verhaftet und verhört. Doch keinem der immer wiederkehrenden Hinweise auf die Verwicklung von Männern aus der lokalen High Society, des politischen Establishments, auf ehemalige Polizeifunktionäre und auf einsame Ranchos als Schauplätze der blutigen Zusammenkünfte wurde weiter nachgegangen. «Dabei wissen sie längst, wer die Mörder sind», glaubt Washington. Ihre Ergebnisse wird sie demnächst in dem mit Spannung erwarteten Buch «Harvest of Women – a Mexican Safari» (Frauenernte – eine mexikanische Safari) präsentieren (www.juarezwomen. com).
Als Testlauf hat sie kürzlich die Namen von sechs Verdächtigen lanciert, die das FBI seit längerem im Visier hat, die meisten mit «besten politischen Verbindungen auf beiden Seiten der Grenze». Der Rest sei Sache der Polizei. Theo­retisch. Seit einiger Zeit bekommt die Endvierzigerin mit den indianischen Zügen, Tochter einer Mexikanerin und eines US-Generals, seltsame Anrufe. Dröhnende Heavy-Metal-Musik, ein Requiem oder das Geräusch einer Kreissäge. Sie habe das zuerst für Zufall gehalten. Bis sie erfuhr, dass ihr mexikanischer Kollege Sergio González Rodriguez, der Ende 2002 in Mexiko ein aufsehenerregendes Buch zum Fall publiziert hat, dieselben Anrufe bekam.

Die Suchenden
Noch aber gilt ihre Heimat, El Paso, als eine der sichersten Städte der USA. Ganze 3 Morde werden hier pro Jahr angezeigt, in Juárez sind es um die 250. «Auch die Drogenhändler schicken ihre Kinder lieber hier zur Schule», sagt Alfredo Quijano von der Lokalzeitung «El Norte». Eine saubere City mit verspiegelten Fassaden, akkurat gepflanzten Palmen und leer gefegten Bürgersteigen. Einzige Ausnahme ist die lärmige Einkaufsmeile, die direkt auf den Grenzübergang der «Freundschaftsbrücke» zuläuft. Schaufenster mit Reizwäsche wechseln sich mit Schuhläden ab, Plastikspielzeug mit riesigen Hallen voller Hausrat («Alles für 1 Dollar!»), dazwischen ein kleiner Laden für «shooters supply», für Waffenbedarf. Wer hier einkauft, kommt von drüben.
Drüben, auf der anderen Seite des betonierten Flussbetts vom Rio Grande, hört Texas auf und beginnt Chihuahua. Vier Brücken spannen sich über den Fluss, der die ungleichen Zwillingsstädte trennt und den die Mexikaner Rio Bravo nennen. Vierzig Millionen Mal im Jahr laufen Menschen über die rundherum umzäunten Brückenbogen, in dessen Mitte die Fahnen die Farben wechseln. Der einzige Unterschied: Gen Norden bilden sich, vor allem seit dem 11. September 2001, immer längere Schlangen vor dem Schalter der Grenzkontrolle. Auf dem Rückweg will niemand die Pässe sehen.
Als «twilight zone», als Niemandsland, hat ein US-Kriminologe Juárez einmal bezeichnet – ein Ort, wo nichts unmöglich und alles käuflich zu sein scheint. «Willkommen in der Stadt der Geschäfte» steht auf einem grossen Schild am Flughafen. Wen es hierhin verschlägt, in diese unwirtliche Häuser- und Strassenansammlung mit den breiten Avenidas und den unförmigen Käs­ten am Strassenrand, mit der staubigen Sonne ohne jedes Grün, ist auf der Suche. Auf der Suche nach Arbeit, wie all die Männer und Frauen, die sich am wuchernden Westrand ihre Hütte bauen. Wer sein Glück im Norden nicht gefunden hat (mit oder ohne Papiere), bricht jeden Morgen in den geschäftigen Ostteil auf, zu den Häusern und Clubs der Reicheren – oder zur Maquila, die für viele Frauen trotz der miesen Bezahlung noch immer eine Traumfabrik ist.
Umgekehrt suchen die Leute aus El Paso im Süden seit je nach dem verbotenen Kick. Lange müssen sie nicht Ausschau halten, direkt hinter der Freundschaftsbrücke stehen die Türen der glitzernden Bars und Nightclubs weit offen. Kleine Trauben von US-Teens scharen sich um die Eingänge von Blue Agave, Tequila Derby oder der Yankees Bar. Trotz den frostigen Temperaturen sind die Mädchen bauch- und schulterfrei gekleidet, wild entschlossen zum ach so verruchten Vergnügen. Englisches Geschnatter mischt sich mit den wummernden Bässen, die aus den Türen quellen. Sex und Schnaps sind billig zu haben, und über tausend Picaderos, Stechorte, sollen es sein, an denen die heiss begehrten Pillen und Pülverchen vertrieben werden.

Der Kriminologe
Still ist es auf dem Stück Brachland, das sich vor den Industrieparks erstreckt. Sand und Geröll und struppige Büsche, aus der Ferne ist nur das Brummen der Schnellstrasse zu hören. Hier stehen die berühmten acht rosafarbenen Kreuze als Markierung für den bislang grössten Leichenfund. Schon oft auf Fotos gesehen, doch erst die Nähe macht schaudern: die kleinen roten Blumengebinde, die an jedem Kreuz befes­tigt sind, die sorgsam in Schnörkelschrift aufgemalten Namen. Claudia Ivette, Lupita und Esmeralda, Brenda und Barbara, Laura Berenice und Ve­ronica und eine «Unbekannte». Der staubige Wind, der über alles hinwegbläst. Ringsherum sind Plastikblumen verstreut, viele davon wurden in Richtung eines kleines Abhangs geweht. «Fast so, als ob die Blumen wüssten», sagt der Fotograf Miguel Perea. Unten, im trockenen Flussbett, hatte ein Maurer am 6. November 2001 durch Zufall die Gebeine des ersten Leichnams gefunden. Man suchte weiter und fand, nur notdürftig im Gestrüpp verscharrt, die Überreste von sieben weiteren Frauenleichen.
Auch hier wurde, wie bei allen anderen Fällen, die Spuren- und Tatortsicherung verschleppt. Fundstellen wurden nicht korrekt markiert, einzelne Beweisstücke wie verstreute Schuhe, Plas­tikfolien und Haarbüschel gar nicht erst aufgenommen, Zeugenaussagen ignoriert. «Viele Beweise sind so für immer verloren gegangen», sagt der Forensiker und Kriminologe Oscar Maynez, der in jenem November die Untersuchungen leitete.
«Kaum hatten wir angefangen, muss­ten wir schon wieder aufhören.» Die Order von oben: Die Fälle sollten schleunigst abgeschlossen und Schuldige gefunden werden. Drei Tage später sassen zwei Busfahrer im Knast, die ein «umfassendes Geständnis» abgelegt haben. Der Haken dabei: Dem Schuldbekenntnis waren nachweislich Folterungen vorangegangen. Und die DNA-Analysen der Körper stimmten nicht mit den Namen der Mädchen überein, deren Ermordung den Busfahrern vorgeworfen wurde. Kurz darauf kündigte Maynez seinen Job.

Der Anwalt
Die beiden Busfahrer sind bis heute nicht aus der Haft entlassen worden. Einer starb bei einer mysteriösen Operation, für den anderen sieht sein Anwalt Sergio Dante Almaraz «nicht die gerings­te Chance». Der stattliche Fünfzigjährige empfängt den Besuch in seiner kleinen Kanzlei am Stadtrand, an der Wand hängt ein altes Foto von Zapata. Die Mädchen seien womöglich eine Art Prämie für besondere Verdienste, glaubt der Anwalt. Er nennt einen Namen. «Veröffentlichen Sie den nicht, das wäre mein Tod.»
Das klingt nach Gehabe, Wichtigtuerei. Doch sein junger Kollege Mario Escobedo, der ihm bei dem Fall zur Seite stand, wurde erschossen. Im Februar 2002, auf offener Strasse und am helllichten Tag, von Polizisten. Man habe ihn mit einem Drogenboss verwechselt, lautet die offizielle Begründung. Zudem habe Escobedo das Feuer auf die Polizei eröffnet.
Zu dumm, dass sich der Fotograf Miguel Perea am Schauplatz aufhielt. Auf seinen ersten Fotos ist das Polizeifahrzeug noch unversehrt. Als der Wagen wenig später der Presse präsentiert wird, sind Einschusslöcher zu sehen. Die verantwortlichen Polizisten wurden nach kurzer Haft entlassen, nach Recherchen von «El Norte» arbeiten sie heute bei den Justizbehörden in Mexiko-Stadt. Perea hat für sein spektakuläres Foto einen Journalistenpreis gewonnen. Der Gouverneur von Chihuahua, Patricio Martínez, habe ihn persönlich beglückwünscht und «freundlich angelächelt», erinnert sich Perea.

Der Streit
Dass diesem Landesvater nicht zu trauen sei, darin sind sich die fast zwanzig Frauen- und Menschenrechtsgruppen in Ciudad Juárez einig. Ansonsten ziehen sie längst nicht mehr an einem Strick. Star und Veteranin der Szene ist Esther Chávez, eine vornehme Siebzigjährige, die als eine der Ersten die Mädchenmorde öffentlich anprangerte. Vor ein paar Jahren gründete die «good old lady» der lokalen Frauenbewegung mit den Spendengeldern eines CNN-Reporters das Casa Amiga, Anlaufstelle und Therapiezentrum für «alle Arten» von Gewaltopfern, wie Chávez betont. Den Schwerpunkt ihrer Arbeit legt sie heute auf häusliche Gewalt und kulturell bedingten Machismo. Nichts weniger als «eine Kulturrevolution» brauche es in Juárez, sagt Esther Chávez. Und lächelt dabei recht zuversichtlich.
Diesen innerfamiliären Fokus hält die Mütterorganisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa (Unsere Töchter zurück nach Hause), zu der Marisela und Norma gehören, für fatal. Schliesslich gehe es nicht um alltägliche Gewalt, die Gewalt von Ehemännern oder Brüdern. Sondern darum, dass «unsere Mädchen auf der Strasse von Wildfremden entführt wurden und dem Vergnügen mächtiger Männer dienen mussten», wie es Marisela Ortiz formuliert. Tatsächlich sind Familienangehörige der mittellosen Opfer allemal leichter zu verdächtigen als Mitglieder einflussreicher Familien.
Symptomatisch für die Spaltung war dieses Jahr der so genannte «V-Day». Auf Initiative der Theaterregisseurin Eve Ensler («Die Vagina-Monologe») hatten Frauengruppen und Filmstars wie Sally Field, Jane Fonda und Salma Hayek am 14. Februar, dem Valentinstag, ein grenzüberschreitendes Festival im Zeichen des V abgehalten – gegen «Violencia» (Gewalt), aber auch für «Victoria» (Sieg) und natürlich für Vagina. «Was denn für Siege?», fragt Marisela Ortiz. Und das weibliche Geschlechtsorgan zu zelebrieren, hält sie angesichts der sexuellen Misshandlungen für reinen Hohn. «Ein Zirkus», meint auch Norma Andrade verächtlich. Zudem sei sie an diesem Tag «kaum in der Stimmung» gewesen, «auf der Strasse zu tanzen». Ihre Tochter war genau am 14. Februar 2001 verschwunden. Es heisst, sie sei das Valentinsgeschenk für einen der Clanbosse gewesen.

Die Sonderbeauftragte
Dass Nuestras Hijas so viel Wirbel machen konnte, ist vor allem Norma And­rade zu verdanken. Die wuchtige Frau ist über Zäune geklettert, hat sich vor­gedrängelt, ihren gewaltigen Körper
den Leibwachen entgegengestemmt. Schliess­lich hat sie im letzten Herbst der Gruppe einen Termin beim Präsidenten erkämpft und das Versprechen, die Dinge voranzubringen. Einiges ist seither in Bewegung geraten. Die Ermordung von Lilia Alejandra kommt womöglich vor den Interamerikanischen Gerichtshof. Das Innenministerium hat ein paar Hundertschaften Bundespolizei in die Stadt geschickt. Und der Präsident hat eine Sonderbeauftragte ernannt.
Guadalupe Morfin ist eine elegante Frau, in dunkelbraunem Kostüm und mit Perlen im Ohr. «Überzeugungsarbeit» will sie leisten, jedes ihrer Worte ist sorgsam abgewogen. Seit letzten November ist die renommierte Menschenrechtsanwältin offiziell für «die Prävention und Eliminierung der Gewalt gegen Frauen» in Ciudad Juárez zuständig. Am guten Willen der Juristin zweifelt hier kaum jemand. Unklar ist jedoch, wen genau sie von was überzeugen will. Und kann. «Die Gute hat ja nichts als ihr Flugticket in der Hand», kommentiert Anwalt Dante Almaraz die Ernennung.
Tatsächlich verfügt die Sonderbeauftragte bislang über kein festes Budget, kein eigenes Büro in Juárez und arbeitet mit einem gerade achtzehnköpfi-
gen Team. Akteneinsicht wurde ihr bis­­­­­-
her nicht gewährt. Die Enttäuschung scheint programmiert. «Wir werden nicht allen Müttern eine zufrieden stellende Aufklärung verschaffen können», sagt Morfin vorsichtshalber. Tatsächlich sind die meisten Familien längst fortgezogen, nur noch dreissig sind heute aktiv. Denen will Guadalupe Morfin vorerst wenigstens eine «symbolische Entschädigung» bieten, etwa die Benennung von Strassen und Plätzen nach den ermordeten Mädchen. Dagegen sei nichts einzuwenden, sagen die Mütter von Nuestras Hijas. Ein Ersatz für die Namen und Bestrafung der Mörder können neue Strassenschilder jedoch kaum sein.
Jetzt oder nie, sagt die Journalistin Diana Washington zum Abschied. Die Konjunktur sei günstig, die internationalen Medien seien alarmiert. Die im Januar entdeckten Massengräber – sie enthielten die Leichen von einem Dutzend Männer, die von Landespolizisten gefoltert und getötet worden waren – haben ein grelles Schlaglicht auf den Polizei- und Drogenfilz geworfen. Doch da gäbe es noch dieses Foto. Sie kramt im Kofferraum ihres Autos und holt einen populären Politbestseller hervor. Im Innenteil ist eine Aufnahme zu sehen, ganz unschuldig, ein Ferienbild der Präsidentenfamilie mit einem befreundeten Unternehmer. Ein weiterer Mann steht hinter einer Schaukel. Das, sagt die Reporterin, ist einer der Namen. Und klappt das Buch zu. Sie lächelt nicht.

Das «perfekte Verbrechen» nennt der mexikanische Reporter Sergio González Rodriguez den Feminicidio von Ciudad Juárez, den durch Frauenhass motivierten Massenmord. Wie ­viele der 375 weiblichen Leichen, die laut Amnes­ty International seit 1993 im ­Umland der Grenzstadt gefunden ­wurden, unter diese Kategorie fallen, ist umstritten. Klar ist jedoch, dass um die hundert der Leichen vergleichbare Folterspuren und Markierungen aufweisen: Viele waren gewaltsam ­penetriert, Haut, Brüste und Ge­schlecht mit Messerschnitten verstümmelt, manche Opfer trugen Würgemale, kahle Stellen am Kopf und waren ­gefesselt.

Bemerkenswert ist ausserdem, wie ähnlich sich die ermordeten Mädchen sahen: Fast alle waren unter zwanzig Jahre alt, von dunkelhäutiger Latina-Schönheit mit langem Haar, zudem auffällig schlank. Keines der ermordeten Mädchen hatte ein Auto, alle legten Tag für Tag weite Wege durch die Stadt zurück, zu Fuss und mit dem Bus, zu den Fabriken, Schulen oder Cantinas. Lange Jahre hatten die Behörden der Provinz Chihuahua jeden Zusammenhang zwischen den Leichenfunden geleugnet. Diese bewegten sich im Rahmen der «normalen» Kriminalität. Die spärlichen Ermittlungen konzentrierten sich auf Flirts und den «freizügigen» Lebenswandel der Opfer. Zum Schutz wurde den Frauen Tränengas empfohlen, ein Landesstaatsanwalt regte gar eine freiwillige Ausgangssperre an.

Doch auch als die Systematik der Morde unübersehbar wurde, nicht zuletzt nach einer Stippvisite von FBI-ErmittlerInnen im Jahr 1999, verhedderten sich die lokalen Ermittler immer weiter in einem Gestrüpp aus lückenhafter Spurensicherung und hane­büchener Hypothesen, erpresster ­Geständnisse und fragwürdiger Festnahmen. Noch immer hinter Gittern sitzt etwa ein vorbestrafter Ägypter, der schon im Oktober 1995 als Haupttäter präsentiert worden war. Die Tatsache, dass nach seiner Festnahme allein zwischen 1996 und 1999 weitere achtzig Frauen ermordet wurden, werten die Behörden als raffiniert inszeniertes Ablenkungsmanöver; noch aus dem Gefängnis habe der Ägypter diverse Killerbanden angeheuert, die zu seiner Entlastung weitermorden sollten.

«Im Gefängnis sitzt derzeit keiner, der mit den Morden direkt zu tun hatte», glaubt die US-Reporterin Diana Washington. Hintergrund für ihre These von den Juniors, den Sprösslingen, ist die Brutalisierung des lokalen Drogenhandels seit der Machtübernahme durch den Clan um Amado Carrillo Fuentes im Jahre 1993. Nach der teilweisen Entmachtung der kolumbianischen Kartelle übernahm das Juárez-Kartell den Vertrieb der südamerikanischen Ware. So wurde die Stadt in den neunziger Jahren zur zentralen Drehscheibe für den Kokain- und Heroinhandel Richtung USA. Damit änderten sich die Spielregeln. Aus Kilos wurden Tonnen, erstmals wurde auch Juárez selbst – einst reine Durchgangsstation – von Drogen überschwemmt. Und waren früher Frauen und Kinder von den mörderischen Machtkämpfen der Banden weitgehend verschont geblieben, so sind heute Folterungen und demonstrative Hinrichtungen ganzer Familien an der Tagesordnung.

Bis Mitte 2004 will die Kommission der neuen Sonderbeauftragten Guadalupe Morfin einen ersten Bericht vorlegen. Grössere Hoffnungen werden allerdings in ihre Kollegin Maria López Urbina gesetzt, die Ende Januar von der Bundesstaatsanwaltschaft PGR zur Sonderermittlerin für die Juárez-Morde ernannt wurde. Im Unterschied zu Morfin wäre sie mit allen juristischen Befugnissen wie etwa dem Recht auf Akteneinsicht ausgestattet.

Bislang ermittelt die PGR nur in wenigen Fällen. Damit die Sonderstaatsanwältin gegen den zu erwartenden Widerstand der Landesbehörden die gesamte Mordserie neu aufrollen kann, braucht sie die Rückendeckung der Zentralregierung. Dazu müsste, wie der Kriminologe Oscar Maynez sagt, ­Präsident Fox den Feminicidio endlich zu einer Frage der nationalen Sicherheit erklären. Die Zeit drängt. Denn das Morden geht weiter. Allein 2003 wurden neun Frauenleichen um Juárez ­gefunden. Und die Seuche greift mittlerweile auch auf andere Städte des Nordens über, wo dutzende von Leichen gefunden und junge Frauen vermisst gemeldet wurden. Mitte ­Januar dieses Jahres fand man auf einem Feld eine weitere tote Frau, die vergewaltigt und offenbar zu Tode ­geprügelt wurde. Der bislang letzte Frauenkörper wurde am 10. März ­entdeckt.

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