Diabolische Künste von der Pfirsichblüteninsel Jin Yong ist einer der populärsten chinesischen Autor:innen – und wird im Westen gerade erst entdeckt.

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Kung-Fu ist weit mehr als bloss eine Kampfkunst, die eine den Naturgesetzen spottende Körperbeherrschung ermöglicht. Es kann genauso gut um die Kultivierung leiblicher Genüsse gehen. In Jin Yongs «Legende der Adlerkrieger» nutzt die junge Huang Rong ihr «Koch-Kung-Fu» dazu, dem neunfingrigen Bettler Hong Qigong wochenlang schmackhafte Gerichte zu kreieren, damit der legendäre Grossmeister und Vielfrass die Geheimnisse seiner Kampfkunst preisgibt. Am Ende beherrscht Guo Jing, der Liebste des gewitzten Mädchens, fast alle «Drachen­bezwingenden Hände» – eine der gefürchtetsten Techniken aus dem Re­per­toire des Mönchs.

Die Episode illustriert, dass «Kung-Fu» im Chinesischen ganz allgemein eine ausgesuchte Kunstfertigkeit bezeichnet, die sich in vielfältigen Tätigkeiten bewähren kann. Und sie zeigt, wie verspielt und malerisch die Storys von Jin Yong sind. Die «Legende der Adlerkrieger» gilt als dessen Hauptwerk, erstmals ist sie jetzt ins Deutsche übersetzt worden – der abschliessende dritte Band ist vor ein paar Tagen im Heyne-Verlag erschienen. Wobei es erstaunlich ist, dass das so lange gedauert hat: Als Jin Yong 2018 starb, war er mit über hundert Millionen verkauften Büchern der populärste chinesische Schriftsteller überhaupt. In der Volksrepublik, wo seine Werke lange als Schund verschrien und zeitweise sogar verboten waren, zählen seine Romane heute zur Schullektüre und sind Gegenstand der Literaturwissenschaft.

Das ist umso bemerkenswerter, wenn man sich die Anfänge Jin Yongs als Schriftsteller vergegenwärtigt. Mitte der fünfziger Jahre arbeitete er als Zeitungsredaktor in Hongkong, das damals noch britische Kolonie war, als er eines Tages einen Anruf erhielt: In der nächsten Nummer des Blatts klaffte ein grosses Loch, das er mit der ersten Folge eines Fortsetzungsromans füllen sollte. Ein Mit­arbeiter der Zeitung wartete bei ihm zu Hause auf die Fertigstellung des Manuskripts, um es dann gleich in die Re­dak­tion zu bringen. So entstand schliesslich sein erster Roman, «Das Buch und das Schwert».

Chinesischer «Herr der Ringe»?

Seinen Durchbruch feierte Jin Yong kurz darauf mit der ebenfalls als Fortsetzungsroman erschienenen «Legende der Adlerkrieger», die einen regelrechten ­Hype auslöste: Eine chinesischsprachige Zeitung aus Thailand liess sich sogar die jeweils neuste Episode per Telegrafen übermitteln, um sie vor der auf die Luftpost wartenden Konkurrenz drucken zu können. Bis 1972 schrieb Jin Yong fünfzehn Romane, dann hängte er die Schriftstellerei an den Nagel, um in den Jahren darauf das bereits Veröffentlichte umzuarbeiten. Später spielte er als Medienunternehmer in Hongkong eine wichtige Rolle, auch politisch, etwa bei der Aushandlung der Bedingungen für die Rückgabe der Kolonie an China. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Ver­tre­ter:in­nen des Wuxia-Romans.

Cos­player:innen im Porträt

Adriana in der Figur einer Elfe
Adriana (26) wohnt in Wigoltingen TG und ist Jurastudentin. Im Porträt stellt sie eine Elfe dar. Diese Figur gebe ihr die Möglichkeit, einen «Teil meines Wesens visuell darzustellen». Die Verwandlung zur Elfe dauert eine halbe Stunde. Weitere Figuren, die Adriana gern verkörpert: die Gamefigur Zelda, Feen, Dunkelelfen und Kitsune, das fuchsartige Wunderwesen aus japanischen Mangas. (Alle Fotos aus der Serie) Foto: Florian Bachmann

Wuxia lässt sich als ein fernöstliches Pendant zur westlichen Fantasy verstehen, die «Legende der Adler­krieger» wird jetzt auch für den deutschen Markt als «chinesischer ‹Herr der Ringe›» vermarktet. Wobei solche Gleichsetzungen falsche Erwartungen wecken können. Zwerge und Elfen kommen in dem Roman nicht vor, Zauberei im engeren Sinn auch nicht, jedenfalls wenn man von der «Schwebekunst» absieht, die praktisch alle Kampf­künst­ler:in­nen bei Jin Yong beherrschen: Diese ermöglicht es ihnen, sich lautlos Feind:innen zu nähern oder Attacken blitzschnell auszuweichen – so wie man es auch aus dem taiwanesischen Film «Crouching Tiger, Hidden Dragon» kennt, der 2000 mehrere Oscars ­gewann.

Die Rede vom «chinesischen Ritterroman», auf die man bisweilen stösst, klingt ebenfalls zu euro­päisch. Wörtlich übersetzt bedeutet Wuxia zwar «Kampfkunst und ritterliche Helden», Letzteres bezieht sich aber nicht auf Rüstung und sozialen Stand, sondern das ethische Verhalten. Wie westliche Fantasygeschichten fingieren allerdings auch Wuxia-Romane meist ein pseudohistorisches Mittelalter, das Heldinnen und Bösewichte bevölkern, die über übernatürliche Fähigkeiten verfügen – etwa über besagte Schwebekunst und geradezu dia­bo­li­sche Kampftechniken.

Die komplexe Handlung der «Adlerkrieger»-Trilogie spielt zur Zeit Dschingis Khans, als die Jurch:in­nen, ein Volk aus der Mandschurei, den Norden Chinas besetzt hielten. Im Zentrum steht die Geschichte von Guo Jing und Yang Kang, zwei jungen Männern, deren Väter Schwurbrüder und aufrechte Patrioten waren. Deswegen gerieten sie in Konflikt mit ­einer verräterischen Frak­tion der den Süden Chinas beherrschenden Song-Dynastie. Guo Jings Vater wird ermordet, noch ehe der spätere Held geboren ist. Dieser wächst am mongolischen Hof auf, bevor er sich zu Abenteuern in seiner Heimat aufmacht.

Jin bietet Orientierung

Yang Kang dagegen wird Kronprinz des Jurch:innenreichs – seine Mutter wurde an den Hof der Invasoren verschleppt, deren Herrscher sie zu seiner Konkubine machte. Erst spät erfährt der junge Mann von seiner wahren Herkunft. Anders als den aufrechten Guo Jing bringt dieses Wissen Yang Kang in einen Gewissenskonflikt: Soll er wirklich auf den Thron der Besatzer verzichten, um ­gemeinsam mit dem Sprössling des Schwurbruders seines wahren Vaters für die Freiheit seiner Landsleute zu streiten?

Der Plot lässt erahnen, dass es Jin Yong wohl da­rum ging, die patriotischen Gefühle seiner Le­ser:in­nen zu ­kitzeln – auch wenn er politische Motive als Autor ­immer bestritt. Er habe das Schreiben von Romanen als Mittel betrachtet, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, sagte Jin Yong einmal – von «hehren gesellschaftlichen ­Zielen» könne keine Rede sein. Dass seine Storys so viel Anklang fanden, dürfte trotzdem auch daran liegen, dass für ­Chi­nes:in­nen das 19. und das 20. Jahrhundert eine Zeit kultureller Verunsicherung darstellten, in der ausländische Mächte aus West und Ost das Riesenreich ­ihrem Willen unterwerfen wollten. Geschichten von edlen dao­istischen Kampfmeistern boten da Orientierung – gerade auch der chinesischen Diaspora, die wie die beiden Hauptfiguren der «Adlerkrieger»-Trilogie in der Fremde lebte.

Ein Bewunderer von Dumas

Chauvinistisch wirkt die Geschichte deswegen aber nicht, allein schon, weil Jin Yongs schrille Pro­ta­go­nist:in­nen Politisches in den Hintergrund drängen. Da sind etwa die kauzigen ­«Sieben Sonderlinge», die den begriffsstutzigen Guo Jing unter ihre Fittiche nehmen und ausbilden. Oder Mei Chaofeng, eine Kung-Fu-Schülerin, die einst ihren Meister verraten und sich danach dank erbeutetem ­Geheimwissen in eine teuflische Massenvernichtungswaffe verwandelt hat. Und natürlich ­Huang Rong, die Freundin des Helden: Das Mädchen kann beileibe nicht nur kochen, sie ist auch eine flinke Kämpferin mit grossem Mundwerk – und überdies Tochter des «Ketzers des Ostens», ­eines Grossmeisters, der auf einem Eiland namens Pfirsichblüteninsel lebt.

Um ein solcher Meister zu werden, bedarf es zudem der Beherrschung des «inneren Kung-Fu», was nicht durch schweisstreibendes Körpertraining, sondern durch Meditation erreicht wird, die das Qi richtig fliessen lässt. Auch das lässt sich bei Jin Yong lernen. Seine Erdichtungen ­eines längst vergangenen China sind für westliche Augen aber nur zum Teil eine Konfrontation mit dem ganz Anderen. Jin Yong schöpfte zwar für seine historischen Fiktionen aus den Traditionen seiner Heimat, er war aber auch Bewunderer von Alexandre Dumas: Erst «Die drei Musketiere» hätten ihn gelehrt, Geschichte lebendig darzustellen, sagte er einmal. Die Legenden aus einem Land weit im Osten von Westeros und Mittelerde wirken vielleicht auf den ersten Blick fremder, als sie es in Wahrheit sind.