Die Urangst vor dem Fluss

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Einmal zählt Ana, die junge Protagonistin im Spielfilmerstling von Elena López Riera, alle achtzehn Hochwasserkatastrophen auf, die der Río Segura seit 1546, seit Beginn der Aufzeichnungen, in der Region von Orihuela verursacht hat. Die Stadt ganz im Süden der Provinz Alicante gehört seit Jahrhunderten zu den trockensten Gegenden Spaniens, und wenn es dann einmal regnet, kann es schnell zu viel sein. Warum in den hundert Filmminuten von «El agua» so viel von Aberglauben und nie vom Klimawandel die Rede sei, monierte im Mai ein Kritiker nach der Weltpremiere des Films am Festival von Cannes an der Quinzaine des Réalisateurs. «El agua» ist kein Dokumentarfilm, auch wenn er ab und an aussieht wie einer und einzig die Figuren der Mutter und der Grossmutter mit professionellen Schauspielerinnen besetzt sind.

Dabei sind die Aufnahmen von der Katastrophe vom September 2019, als der Fluss elf Tote forderte, eine Art makabre dokumentarische Zugabe. Sie setzen den ungeplanten Schlusspunkt in einem Drama, das beständig mit der Urangst vor dem Fluss spielt. Einer Angst, die sich von Generation zu Generation weitervererbt habe, sagt die heute in Genf lebende Regisseurin, die 1982 in Orihuela zur Welt kam und auch dort aufwuchs. Die alte Legende vom Fluss, der sich in das schönste Mädchen der Gegend verliebt und sie eines Tages für immer mitgenommen habe, sei ihr von klein auf vertraut gewesen. Als Disziplinierungsmittel für den Erhalt der «Reinheit» von Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft Südspaniens sei die Legende bis heute lebendig: Davon handelt «El agua» – und nicht vom Klimawandel. Auch beim erzählerischen Zentrum, der sommerlichen Liebe zwischen Ana (Luna Pamies) und José (Alberto Olmo), die wegen Tratsch und Intrigen der Leute nur noch wegwollen, scheinen die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem oftmals so fliessend wie das Wasser des Filmtitels.

Filmstill aus dem Film «El Agua»

«El agua». Regie: Elena López Riera. In: Solothurn, Konzertsaal, Fr, 20. Januar 2023, 20.45 Uhr, und Reithalle, Mo, 23. Januar 2023, 14.15 Uhr. Ab April 2023 im Kino.