Queerfeministische Solidarität: «Der grössere Fehler wäre zu schweigen»
Laute Schlagworte, verkürzte Erzählungen: Welche Leerstellen bergen queerfeministische Diskurse über das Massaker der Hamas und den Krieg in Gaza? Auszüge aus einem Podium im Theater Neumarkt – mit Hengameh Yaghoobifarah, Dastan Jasim, Stefanie Mahrer und Cordula Trunk.
«404: Solidarity not Found»: Unter diesem Motto hatte das Kollektiv «feministisch*komplex» im Juni zu einem Podium geladen, um über die «Leerstellen in der (queer-)feministischen Solidarität» nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zu sprechen. Sie sei «fassungslos» über die Online- und Offlinedebatten, die verkürzten Narrative an Demos und Veranstaltungen, beklagte ein Mitglied des Kollektivs zu Beginn. Fassungslos auch, wie Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus gegeneinander ausgespielt würden, die Hamas verharmlost werde; dass die berechtigte Kritik am brutalen Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza zu oft antisemitische Stereotype enthalte.
Moderiert von WOZ-Reporterin Anna Jikhareva, teilten die vier Podiumsgäste anschliessend ihre Perspektiven auf die komplexe Gemengelage. Über die Gründe für die fehlende Solidarität sprachen im Zürcher Theater Neumarkt: Schriftsteller:in und Journalist:in Hengameh Yaghoobifarah aus Berlin, unter anderem Herausgeber:in der Anthologie «Eure Heimat ist unser Albtraum» und Autor:in des Romans «Ministerium der Träume»; die Politologin Dastan Jasim vom Giga-Institut für Nahost-Studien in Hamburg, wo sie zu Islamismus und Antisemitismus im Nahen Osten forscht; Stefanie Mahrer, Historikerin in Bern und Basel und Expertin für jüdische Geschichte; schliesslich die Leipziger Kulturwissenschaftlerin und Philosophin Cordula Trunk, die sich an der Uni Innsbruck mit feministischer Konfliktgeschichte und Antisemitismus in subkulturellen Bewegungen befasst. Dieser Text ist ein gekürzter, editierter Auszug aus dem Gespräch.
I. Unmögliche Begriffe
WOZ: Seit dem Massaker der Hamas und Israels darauf folgendem Krieg in Gaza herrscht in vielen Debatten ein starker Wunsch nach klaren Bekenntnissen. Grosse Schlagworte werden herumgereicht. Welche Formulierung mögen Sie nicht mehr hören?
Dastan Jasim: Ich kann den starken Wunsch nicht verstehen, bestimmte Wörter aus anderen historischen Kontexten unbedingt aussprechen zu müssen, ohne so richtig zu wissen, was man damit eigentlich meint. Ein Wort, das ich richtig schlimm finde, ist «indigen». Es ist für sehr viele Orte unpassend, aber vor allem für den Nahen und Mittleren Osten: eine Region, in der so viele verschiedene Bevölkerungen existieren, die sich dort ausgebreitet oder von dort wegbewegt haben, teilweise über Jahrtausende auf demselben Flecken Erde leben. Mit dem Indigenitätskonzept wird man dieser Komplexität nicht gerecht; im schlimmsten Fall geht es darum, jüdisches Leben in der Region zu leugnen. Das ist für mich als kurdische Person extrem stossend, denn ähnlich wurde es über unsere ganze Geschichte hinweg auch mit uns gemacht.
Stefanie Mahrer: Mich hat der Ruf nach «Kontext» nach dem 7. Oktober sehr gestört. Als Historikerin stelle ich natürlich ständig Kontexte her; aber das grösste Massaker an jüdischen Menschen seit der Shoah sogleich in eine Reihe von Ereignissen zu setzen, bedeutet, die Gewalt und den Vernichtungswillen unsichtbar zu machen.
Cordula Trunk: Mich nervt die Phrase, man dürfe Israel gar nicht mehr kritisieren, sonst werde man als antisemitisch abgestempelt. Das erinnert mich ans rechte Narrativ vom alten weissen Mann, der gar nichts mehr sagen dürfe, ohne gleich als sexistisch zu gelten. Dabei wird der Nahostkonflikt in den deutschsprachigen Medien sehr oft thematisiert – häufig mit einer negativen Darstellung von Israel, wie etwa eine Studie der Uni Duisburg gezeigt hat. Der Vorwurf, man dürfe nichts mehr sagen, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, wird meist vorneweg genannt, um dann etwas Antisemitisches zu sagen.
Hengameh Yaghoobifarah: Was ich nicht mehr hören kann, ist der Begriff «German Guilt» – er ist Teil von Forderungen wie «Free Palestine from German Guilt» –, also, dass man die Situation dort ohne den Blick auf die deutsche Geschichte bewerten soll. Auch ich habe viel Kritik daran, wie in Deutschland mit Antisemitismus und dem Kampf dagegen umgegangen wird. Ich verstehe nicht, wieso man den Deutschen dieses Geschenk der Entlastung von der eigenen Vergangenheit machen will. Ich habe nicht das Gefühl, dass Schuldgefühle in Bezug auf die Geschichte ein «German Thing» seien. Zudem ist die Formulierung sehr nah am «Schuldkult»-Begriff der Rechten.
Jasim: Der Begriff «German Guilt» insinuiert, die NS-Ideologie sei ein rein europäisches Ding gewesen – und klammert aus, dass die Nazis ihre Ideologie auch in den Nahen und Mittleren Osten exportiert haben. Die einzige noch existierende Schwesterpartei der NSDAP etwa ist die SSNP, die bis heute im syrischen Parlament vertreten ist. Und der bekennende Nationalsozialist Rashid Ali al-Gailani war 1941 als irakischer Premier für den «Farhud» verantwortlich: einen Pogrom an der jüdischen Bevölkerung von Bagdad mit wohl Hunderten Toten. Der Begriff klammert aus, dass die Region nicht einfach ein neutraler, friedlicher Ort war, bevor die «bösen Juden» 1948 kamen – sondern ein kolonialer Ort, erst unter den Osmanen und Persern, später unter Frankreich und Grossbritannien. Das nicht zu sehen, ist geschichtsvergessen.
II. Fehlende Solidaritäten
Seit dem 7. Oktober fühlen sich so manche Jüdinnen und Juden von der Linken mit ihrem Schmerz alleingelassen. Wo liegen die Gründe für die fehlende Solidarität?
Mahrer: In der Schweiz bestanden die Leerstellen in der Solidarität mit Jüdinnen und Juden schon vor dem 7. Oktober. Die Vorstellung, die Schweiz sei während der NS-Zeit eine sichere Insel gewesen, lebt beharrlich weiter. Zwar kamen in den neunziger und nuller Jahren nach dem Bericht der Bergier-Kommission Debatten um die ökonomischen Verstrickungen mit NS-Deutschland oder die fatale Flüchtlingspolitik auf. Aber in der breiten Bevölkerung kam die Diskussion nicht an; im Unterschied zu Deutschland ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte selten Thema in den Medien.
Trunk: In Deutschland wurde die Erinnerungspolitik unzureichend umgesetzt: ein Land als «Erinnerungsweltmeister» mit eingeübtem, repetitivem Gedenken. Dabei geht es immer nur um tote Jüdinnen und Juden, nie um die lebenden. Schon in den siebziger, achtziger Jahren haben jüdische Feministinnen auf die fehlende Solidarität hingewiesen. Weil Antisemitismus eine Leerstelle blieb, konnte aber auch nie Solidarität eingeübt werden. Man muss genauer auf die Funktionsweise von Antisemitismus schauen: Die meisten wissen, dass klassischer Judenhass tabu ist. Aber es gibt eben neue Ausprägungen wie israelbezogenen Antisemitismus. Viele äussern sich antisemitisch, ohne zu verstehen, dass sie das tun.
Woran erkennt man Antisemitismus?
Trunk: Antisemitismus ist die Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden. Er ist eine jahrhundertealte Unterdrückungsideologie – wie Rassismus oder das Patriarchat –, funktioniert aber anders. Beim Rassismus werden die «rassifizierten Anderen» als unter den Weissen stehend abgewertet. In einer antisemitischen Ideologie wird Jüdinnen und Juden Geld, Macht, Reichtum und so etwas wie Hinterhältigkeit zugeschrieben – wie in dem Bild von den Strippenziehern im Hintergrund, die die ganze Welt kontrollieren. In der rassistischen Logik kann ich mit den rassifizierten Anderen leben, wenn ich sie dominiere.
Und mit Jüdinnen und Juden kann man nicht leben, weil sie angeblich die Welt beherrschen?
Trunk: Weil sie so mächtig sind, müssen sie dieser Logik nach vernichtet werden. Antisemitismus zielt also immer auf Vernichtung. Und weil angenommen wird, Jüdinnen und Juden würden die Welt beherrschen, funktioniert er als Welterklärung, etwa über eine verkürzte Kapitalismuskritik. Entsprechend muss der Antisemitismus zeitgemäss bleiben, sich immer wieder aktualisieren – und nimmt dabei Elemente anderer Ideologien auf. Die neuen Chiffren – dass man von Zionist:innen spricht, wenn man Jüdinnen und Juden meint, etwa – müssen jeweils erst als antisemitisch identifiziert werden.
Israel führt noch immer einen brutalen Krieg in Gaza, auch gegen die Zivilbevölkerung, mit vielen Tausend Toten. Wie kann die dringend notwendige Kritik daran geäussert werden – und wann kippt sie in Antisemitismus?
Mahrer: Eine klare Linie zu ziehen, ist schwierig. Aber natürlich ist es möglich, militärische Entscheide der israelischen Regierung zu kritisieren, wie wir das bei jedem anderen Staat auch können. Problematisch wird es, wenn die Kritik dem Staat das Existenzrecht abspricht, Israel als Chiffre für Jüdinnen und Juden verwendet wird.
Jasim: Die Frage ist doch: Warum interessierts die Leute so? Schauen wir die Standards bei anderen Konflikten in der Region an wie etwa dem Kampf gegen Islamismus in Kurdistan: Oft wird gesagt, man müsse den Kontext verstehen, in dem die Hamas entstanden ist; die Kurd:innen sind auch seit hundert Jahren unterdrückt – manche haben sich für den Islamismus entschieden, aber die Mehrzahl leistet Widerstand. Als linke Person würde man niemals für Erstere Entschuldigungen suchen. Im August jährt sich zudem der Genozid an den Jesid:innen zum zehnten Mal. Es hätte viele Gelegenheiten gegeben, der in Europa zahlreich vertretenen jesidischen Community unter die Arme zu greifen, Allianzen gegen Islamismus und Kolonialisierung zu schmieden, aber das wurde nicht gemacht. Und der Umstand, dass die Taliban seit drei Jahren in Afghanistan regieren, löst auch nichts mehr aus. Wenn dann genau die Leute, die das alles nicht sehen, unbedingt ihre Kufija auspacken und etwas für Gaza machen müssen, muss ich ehrlich sagen: Jede Person in Palästina, die offene Augen und Ohren hat, wird wissen, dass es bei dieser Solidarität nicht um sie geht.
Wie kommt es, dass aktuell praktisch jeder emanzipatorische Kampf auf den Nahostkonflikt projiziert wird?
Yaghoobifarah: Der Konflikt bietet aus jeder Perspektive sehr viel Projektionsfläche, wird wie kein anderer in allen möglichen Spaces thematisiert. Durch diese Allgegenwärtigkeit können sich die Leute dem weniger entziehen. Zudem gibt es Druck, sich zu positionieren. Ich weiss nicht, wie oft ich im Herbst 2022 auf Instagram geschrieben habe: «Leute, wenn es irgendwann eine Gelegenheit gibt, in der es was bringt, sich online zu positionieren, um einer politischen Bewegung woanders zu helfen, dann ist es jetzt im Iran: Dort wird das Internet ausgeschaltet, wir müssen also die Infos nach draussen bringen.» Es hat keine:n gejuckt – ausser jenen, die biografisch betroffen sind, und den wenigen, die sich solidarisiert haben. Der Kampf gegen die Mullahs ist eine der wichtigsten feministischen und queeren Bewegungen des 21. Jahrhunderts. Es gab aber keine Kampagnen, die alle möglichen Subkulturen angeschrieben, offene Briefe verfasst haben.
Worauf spielen Sie an?
Yaghoobifarah: Gruppierungen wie die Israelboykottbewegung BDS haben ein gutes Marketing: Sie gehen gezielt auf Leute zu, mit einem je nach Zielgruppe unterschiedlichen Wording. BDS ist ein Sammelbecken: Jede:r kann darin sehen, was er oder sie sehen möchte, und den Rest ausblenden. Die Situation in der Westbank und im Gazastreifen war ohne Frage auch vor dem Krieg schon übel. Aber es gibt schon einen Grund, warum diese Realität die Leute so viel mehr interessiert als alle anderen, ebenfalls beschissenen Realitäten – und das ist eine antisemitische Obsession mit dem israelischen Staat. Auch in vielen arabischen Ländern ist die Lebenssituation von Palästinenser:innen schrecklich, doch mir ist keine internationale Kampagne bekannt, die diese Verhältnisse so scharf kritisiert und zum Boykott aufruft. Ehrlich gesagt tauchen diese Realitäten in den gängigen Debatten kaum auf.
III. Den Opfern glauben
Ein wichtiges queerfeministisches Thema ist der Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Die Gewalt an israelischen Frauen am 7. Oktober war allerdings eher weniger Thema, zuweilen wurde sie verharmlost oder gar geleugnet. Woran liegt das?
Jasim: Wie mangelhaft die Diskussion ist, lässt sich an zwei Dingen aufzeigen: Weil es als rassistisch wahrgenommen wird, über sexualisierte Gewalt an vermeintlich weissen Frauen durch Men of Color zu sprechen, ist es unangenehm, diese zu thematisieren. Dabei ist schon die Codierung von israelischen Frauen und Queers als weiss problematisch: Die Mehrheit der Bevölkerung sind «Mizrachim», kommt also aus Afrika und Asien. Aber darum geht es jenen, die so argumentieren, eh nicht – sie wollen Jüdinnen und Juden aus antisemitischen Gründen als im Nahen und Mittleren Osten nicht «indigen» darstellen. Demgegenüber wird der Täter als indigener Mann essenzialisiert, der zu so etwas gar nicht fähig ist.
Und die andere Ebene?
Jasim: Viele haben den Islamismus nicht verstanden. In den letzten Jahrzehnten gab es mehrere islamistische Femizide, bei denen die Täter ihre Intention jeweils klar benannt haben. Etwa wenn an Orten wie dem Teheraner Evin-Gefängnis weibliche politische Gefangene vor ihrer Exekution vergewaltigt wurden, weil gesagt wurde, Jungfrauen kämen automatisch in den Himmel. Oder wenn es hiess, jesidische Frauen müssten versklavt werden, weil sie «des Islam nicht würdig» seien. Auch am 7. Oktober war die Ansage klar – warum wird sie nicht geglaubt?
Trunk: Dass man nicht rassistisch sein möchte, ist ja richtig. In den USA haben Studien gezeigt, dass Menschen, die nicht als weiss gelesen werden, häufiger als Sexualstraftäter verurteilt werden. Im Diskurs um die sexualisierte Gewalt am 7. Oktober wird die Wahrheit aber innerhalb eines Schwarz-Weiss-Denkens verortet und verdreht: Es darf nicht sein, dass die Unterdrückten – in diesem Fall die Palästinenser:innen – Gewalttaten verübt haben, weil sie «reine Opfer» sein müssen, damit man sich problemlos mit ihnen identifizieren kann. Diese Dethematisierung kann dann in der Leugnung von Vergewaltigungen münden.
Zur Simplifizierung führt auch die Übertragung von US-Diskursen auf Europa, beispielsweise die Betonung der Color Line, also der Diskriminierung von Schwarzen Menschen durch weisse. Welche Folgen haben diese Vereinfachungen für Jüdinnen und Juden?
Yaghoobifarah: Jüdinnen und Juden pauschal als weiss zu markieren, macht zunächst einmal unsichtbar, dass es etwa auch Schwarze, nordafrikanische oder westasiatische jüdische Menschen gibt, die sowohl von Antisemitismus als auch von Rassismus betroffen sind. Viele US-Diskurse werden ohne Kontextualisierung nach Europa übertragen, obwohl sie hier keinen Sinn ergeben. In den USA gelten auch Menschen aus dem Iran oder der Türkei erst seit Donald Trumps «Muslim Ban» nicht mehr als weiss. Würde man hierzulande Türk:innen als weiss bezeichnen, würden die Leute einem den Vogel zeigen. Dass Rassismus gegen türkeistämmige Menschen in Deutschland Vernichtungsfantasien birgt, zeigen nicht nur die NSU-Morde, sondern auch vermeintlich banale «Türkenwitze». Der Import von US-Diskursen führt zudem zu einer seltsamen Dynamik: Leute organisieren eher eine Demo nach dem Mord an George Floyd, als zum Gedenken an Oury Jalloh nach Dessau zu fahren, wo der Geflüchtete aus Sierra Leone in einer Polizeizelle verbrannte.
Woran liegt das?
Yaghoobifarah: Das hat mit der Social-Media-Politisierung und einer stark US-zentrierten Welt zu tun. Onlineproteste sind zugänglicher, sie erfordern aber auch weniger Auseinandersetzung mit dem unmittelbaren Umfeld. In Berlin gabs heftige Repressionen gegen propalästinensische Demos – und die Kritik daran ist wichtig. Aber diese Repression gibt es auf linken Demos immer, und da habe ich in der Vergangenheit weitaus weniger Solidarisierung gesehen.
Trunk: Ich finde aber auch, dass man bei den Unibesetzungen und Palästinademos genauer hinschauen sollte: Wenn ich dort bin und mich sehr legitim für die palästinensische Sache und gegen den Krieg engagieren möchte, und neben mir ruft jemand etwas Antisemitisches, ist das der Moment, wo ich gehen oder Widerspruch einlegen müsste – und das passiert nicht. Wie kann es sein, dass es keine Distanzierung gibt, wenn rote Dreiecke als Symbol verwendet werden – ein Zeichen, mit dem die Hamas potenzielle Ziele markiert?
Mahrer: Besonders in den Geisteswissenschaften bilden wir doch junge Menschen dazu aus, kritisch zu denken – Quellenkritik, Diskurse hinterfragen, die Komplexität als Komplexität annehmen und zu analysieren versuchen. Wenn das nicht passiert, müssen wir in der Lehre uns fragen, was schiefgelaufen ist. Die Forderung etwa, Universitäten sollten ihre Investitionen öffentlich machen, ist eine Übernahme von US-Slogans, obwohl die Unis hier gar nicht privat sind.
Yaghoobifarah: Alles wird so vermengt, wie es einem gerade passt. Kritisches Denken, etwa das Hinterfragen von in linken Milieus gängigen Normen, ist verloren gegangen. Es gibt den Druck, bei den Demos mitzumachen und bestimmte Sachen zu teilen – aber stimme ich dem eigentlich zu, verstehe ich überhaupt, was ich da poste? Allerdings darf man den Druck auf jene, die es wagen, intern Kritik zu formulieren, nicht unterschätzen: Viele werden eingeschüchtert und fertiggemacht.
IV. Banden bilden
Wie gelingt es, Rassismus und Antisemitismus nicht gegeneinander auszuspielen, sondern gemeinsam zu bekämpfen?
Jasim: Ich finde es krass, dass eine Bevölkerung, die nachweislich seit Jahrtausenden Teil des Nahen und Mittleren Ostens ist, als rein europäisches Thema behandelt wird. Man kann nicht ernsthaft sagen, man setze sich mit der Intersektion von Rassismus und geschlechtsbasierter Gewalt auseinander, wenn man nichts über die Sklaverei der nah- und mittelöstlichen Grossreiche weiss. Oder über den Rassismus in der Region, die bis heute systematische sexuelle Gewalt gegen Schwarze. Wenn man nicht anerkennt, dass Personen, die bei uns als nicht weiss gelesen werden, dort Teil der Mehrheitsgesellschaft sind und in dem Kontext die «Weissen».
Welchen Beitrag können die Universitäten leisten?
Mahrer: Ich würde nicht erst an den Unis, sondern schon in der Schule beginnen. Im Lehrplan 21 kommt der Begriff «Antisemitismus» einmal in einem Nebensatz vor, auch von Rassismus ist praktisch keine Rede. Es gibt die Zirkus-, Sport- und Waldwoche, alles tolle Sachen. Aber man könnte sich ja auch mit schwierigen Themen auseinandersetzen – auf einem Niveau, das für Primar- oder Sekundarschüler:innen funktioniert. Es braucht eine Bildungsoffensive.
Trunk: Bildung ist wichtig, aber nicht genug. Es liegt auch an einem selbst, bei antisemitischen Narrativen im privaten Umfeld zu widersprechen, Arbeitskolleg:innen auf deren in letzter Konsequenz tödlichen Charakter aufmerksam zu machen. Wir alle sind aufgerufen, etwas dagegen zu unternehmen: Es ist eine gesellschaftliche Verantwortung. Man muss als Individuum abwägen: Wo bin ich solidarisch, manchmal auch kritisch, wo ist es nötig, eine Grenze zu ziehen? Man muss Leuten aber auch die Chance geben zu lernen. Dann entsteht vielleicht einmal so etwas wie universelle Solidarität.
Yaghoobifarah: Wichtig sind ständige Selbstkritik, aber auch Dialog und Streit. Wenn wir aufhören, miteinander zu reden, und anfangen, Leute durch autoritäre Mittel wie Ausschlüsse oder Mobbing unter Druck zu setzen, damit sie ihre Meinung ändern, wird sich genau nichts ändern. Genauso wenig wie sich Antisemitismus durch Rassismus bekämpfen lässt, lässt sich Rassismus durch Antisemitismus bekämpfen. Eine wichtige Frage ist auch, mit wem wir uns in Bündnissen wiederfinden: Für mich ist ganz klar, dass ich nicht auf CDU-Demos gehe und die Polizei nicht meine Bündnispartnerin gegen Antisemitismus ist. Weder bei der CDU noch in der Polizei wird der Antisemitismus in den eigenen Reihen auch nur annähernd so vehement bekämpft wie in linken oder migrantischen Communitys.
Mit wem sollten also Bündnisse eingegangen werden?
Yaghoobifarah: Ich bin interessiert an linken Strategien gegen Antisemitismus, wünsche mir aber auch, dass sich Leute fragen, ob sie mit islamistischen Gruppen gegen Rassismus kämpfen wollen. Und wo bleiben unsere Glaubenssätze in queerfeministischen Kontexten, dass Überlebenden sexualisierter Gewalt geglaubt wird? Man muss sich fragen: Wo mache ich mich zur Kompliz:in, wo schweige ich, um nicht als Nestbeschmutzer:in zu gelten, obwohl etwas passiert, das mir gegen den Strich geht? Und wenn ich Angst habe, eine szeneinterne Kritik werde sich von rechts angeeignet: Liegt das vielleicht daran, dass ich sie rechts formuliere? Halten wir uns aber an linke Ideale und formulieren unsere Kritik solidarisch, sind wir auf dem richtigen Weg.
Jasim: Internetaktivismus, hinter dem keine menschlichen Netzwerke stehen, macht uns schutzlos. Wir leben in einer Zeit, in der rechte Strukturen aktiv bewaffnet sind, konkrete Deportationsfantasien haben, und wir teilen noch Bilder auf Social Media – das ist eine beliebte wie berechtigte Kritik. Aber Internetaktivismus kann auch helfen zu merken, dass man mit seiner Kritik nicht allein ist. Ich rede derzeit viel mit linken jüdischen Freund:innen – und sie sagen: Die Einzigen, die sich gegen Antisemitismus engagieren, sind Liberale und Konservative, aber wir fühlen uns nicht wohl mit ihnen. Derweil kämpfen migrantische Kräfte gegen Islamismus. Wenn wir als Communitys nicht jetzt zusammenkommen, wann dann?
Trunk: Ich finde es wichtig, Kritik trotzdem zu äussern, man hat ja keinen Einfluss darauf, von welcher Seite sie vereinnahmt wird. Statt gleich einen öffentlichen Artikel zu schreiben, kann man ja auch erst einmal eine Privatnachricht schicken. Der grössere Fehler wäre zu schweigen.