Krankhafter Gesundheitsfanatiker
Wann hatte es eigentlich genau angefangen? Und wäre auch ein anderer Weg möglich gewesen? Dies sind nur zwei von vielen Fragen, die sich Hanne, die Protagonistin in «Gesund genug» von Ursula Fricker, am Sterbebett ihres Vaters stellt. Wann wurde der «Liebvatteli», wie ihn die Mutter nannte, zu diesem krankhaften Gesundheitsfanatiker, der die ganze Familie mit seinem Lebensstil terrorisierte? Der seinen Kindern das Schulschwimmen wegen des Chlors im Wasser verbot und Menschen, die in der Migros oder im Coop einkauften, verachtete. «Da kann man einmal sehen», sagte er jeweils mit Genugtuung, wenn jemand krank wurde. Er war überzeugt: Wer gesund isst, bleibt nicht nur gesund, sondern ist auch ein besserer Mensch. Mit seiner autoritären Arroganz zerstörte er jegliche sozialen Kontakte der vierköpfigen Familie, die fast wie eine eigene, religiöse Gemeinschaft vor sich hin lebte. Dass nun ausgerechnet dieser Vater an Darmkrebs sterben wird, ist in diesem Universum schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.
Die aus Schaffhausen stammende Ursula Fricker erzählt die Geschichte aus der Perspektive der erwachsenen Tochter, die mittlerweile in Berlin lebt. Sie wechselt dabei kontinuierlich die Zeitebenen: Während sie den Erzählstrang vom sterbenden Vater in der Vergangenheit erzählt, lässt sie Hannes Erinnerungen an ihre Kinder- und Jugendjahre in der Gegenwart aufblitzen. Entscheidend ist auch die Rolle der Mutter: Mal Komplizin und Verbündete des Vaters, dann wieder Schutzschild für die Kinder, trägt sie die zerstörerischen Strukturen der Familie mit, unter der die Tochter noch Jahrzehnte später leidet. Auf die Frage ihrer Tochter, warum sie sich nie habe scheiden lassen, sagt sie: «Man lässt sich nicht scheiden […], und er war ja auch ein guter Mann. Er hat nicht geraucht und nicht getrunken. Und er war auch nicht immer so.»
Die Autorin liest und diskutiert an den Solothurner Literaturtagen am Freitag, 19. Mai 2023, um 13 Uhr und am Sonntag, 21. Mai 2023, um 14 Uhr.

Ursula Fricker: «Gesund genug». Roman. Atlantis Verlag. Zürich 2022. 240 Seiten. 33 Franken.